In der Furt der Zeit

Wie denkt eine Stadt? Diese und andere Fragen versucht Wim Wenders in seinem Film «Der Himmel über Berlin» zu beantworten. Das Resultat ist ein expressionistisches Meisterwerk.

Die Welt in schwarz und weiss wahrnehmen, Gedanken lesen und ewig existieren; oder Farben sehen, Gefühle verspüren und bewusst die Endlichkeit des menschlichen Daseins in Kauf nehmen? Vor dieser Entscheidung steht der Engel Damiel – er, der seit Urzeiten im Himmel über Berlin existiert hat, ohne jedoch richtig am Leben zu sein. Noch als Engel verliebt er sich in die Bohémienne Marion. Die versucht, hinter den geschlossenen Augen auch die Augen ihres Verstandes zu verschliessen. Am Trapez, an dem Marion im Zirkus turnt, hängt die Welt. Und sie ist ständig bereit, herunterzufallen.

Die Welt – das ist Berlin, die geteilte Stadt, in der ein alter Mann den Potsdamer Platz nicht findet, weil dieser verschandelt ist von der Mauer. Und doch ist Berlin von einer Schönheit, auf die sich die zahllosen Engel im Himmel über der Stadt stürzen, wie Insekten auf Honig. Da liest ein Mann einem Kind aus der Odyssee vor. Die Beschreibung dieser Vielfalt inmitten des Chaos mutet an wie eine schöne Seite des Expressionismus, der in Döblins «Berlin Alexanderplatz» in Schlachthof- und Pendlerszenen groteske Ausmasse annimmt. Und doch genügt dies alles Damiel nicht, weil nichts davon wahrhaftig, weil er nicht Teil davon ist.

Damiel entscheidet sich, Mensch zu werden. «Etwas wird geschehen, und es wird gelten!», verspricht er seinem Freund Cassiel, bevor er sich verabschiedet. Er durchschreitet die Mauer von ihrer weissen, östlichen Seite, um aufzuwachen inmitten der Farben der Graffiti. Die Furt der Zeit, die er seit immer am Ufer des Flusses, der heute Spree heisst, beobachtet hat, umgibt ihn nun. «Jetzt sind wir die Zeit», sagt Marion ihm, als die beiden sich endlich kennen lernen. Aufgrund ihrer Liebe bereut Damiel seinen Entscheid nie. «Ich weiss jetzt, was kein Engel weiss», sagt er und meint damit mehr, als wir in unserem Alltagsstress von der Welt wahrzunehmen pflegen. Kaffee und Tabak, sich die Hände reiben in der Kälte. Und, natürlich, die Inhärenz des eigenen Seins.


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