Rotzen, schmatzen, lächeln… Das Leben in Peking hat viele Facetten!

Ein typischer Morgen, 7.00 Uhr, mitten im Pekinger Dezember. Dank gesundheitsgefährdend miserabler Isolierung sind es trotz Zentralheizung maximal 15°C in meinem zwölf Quadratmeter grossen Zimmer im Nordosten Pekings. Der Wecker klingelt und das Letzte was ich jetzt tun möchte, ist aufstehen. Aber es hilft ja alles nichts.

Rund eine Stunde später kämpfe ich mich bereits durch die allmorgendlich völlig überfüllten U-Bahnhöfe der Stadt auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz bei der Credit Suisse. Im Minutentakt einfahrende Züge können die wartenden Pendler kaum aufnehmen, da sie bereits zum Bersten gefüllt sind. Die Zeit vergeht mit Musik hören und Videospielen, während man die ersten drei Züge vorbeifahren lässt. Linkerhand verkaufen zahnlose Strassenverkäufer diverse günstige Frühstückssnacks, rechterhand zieht ein junger Mann in meinem Alter geräuschvoll den in seinem Rachen festsitzenden Schleim hoch und spuckt alles auf den Bahnsteig. Oh Peking, du kannst so hässlich sein…

Da ich mich schliesslich erfolgreich schon in den vierten Zug quetschen kann, erwies es sich doch mal wieder als die bessere Idee, die U-Bahn zu nehmen, anstatt sich das noch viel schlimmere Chaos auf den Ring Roads im Taxi anzutun. Immerhin: Die Sonne lacht bei einem frischen Wind vom Himmel und neben meinem Praktikantenjob bei der Credit Suisse erwarten mich heute auch noch ein Termin beim China CEO der Swiss Re und ein Lunch mit dem Chefredakteur des Caixin Weekly, einer sehr populären chinesischen Businesszeitschrift. Warum ich mich mit diesen Leuten treffe? Ganz einfach: Ich bin im zweiten Jahr China-Teammitglied im International Students’ Committee (ISC) und ich suche Teilnehmende, Redner und Förderer für das 42. St. Gallen Symposium. Im Gegensatz zu meinem ersten Jahr im ISC, in dem ich von St. Gallen aus potentielle Teilnehmer kontaktierte und während meiner fünfwöchigen Reise traf, habe ich mich dazu entschlossen, die Marktarbeit in diesem Jahr direkt von Peking aus zu betreiben, um noch flexibler auf Terminanfragen reagieren zu können und einen grösseren Fortschritt im Markt zu erzielen, als dies von St. Gallen aus möglich wäre.

Die Marktarbeit in China unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht deutlich von derer der Schweiz-, Deutschland- oder USA-Teammitglieder. Die sprachliche Komponente ist da nur ein Aspekt, wenn auch der augenscheinlichste. Es ist mitunter viel Kreativität gefragt, wenn man als frischgebackenes ISC-Teammitglied bei der Assistentin des CEOs eines grossen chinesischen Handelsunternehmens anruft und folgendes passiert:

PA: „Weeeeeeeei?“ („Hallo?“)

Ich: „Ni Hao, my name is … Do you speak English?“

PA: „Weeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeei?“ (plus ein Redeschwall auf Chinesisch, der offensichtlich besagt, dass sie kein Englisch spricht)

Ich: “Would you be so kind as to put me through to someone who speaks…” Aufgelegt.

Schnell lernt man, dass man auf diese Weise seine Zeit verschwendet. Ähnlich unangenehm ist es, wenn man noch nicht mal jemanden persönlich in der Leitung hat, sondern gleich in eine für Ausländer abschreckende chinesische Hotline geleitet wird. Hier hilft es in der Regel, einfach mal die „0“ zu drücken und abzuwarten was passiert… Generell, und das zeigen nicht nur diese Beispiele, ist es schwer in China „auf gut Glück“ in einem Unternehmen anzurufen und sich und sein Anliegen vorzustellen. Das Misstrauen ist zu gross, um dabei eine echte Chance zu haben, weiterverbunden zu werden. Positionen und Unternehmen zählen hier nicht viel. Viel effektiver ist es, seine Freunde und Geschäftspartner zu bitten, eine Empfehlung gegenüber ihren Geschäftspartnern auszusprechen und ihnen zu raten, sich doch vielleicht mal mit dem China-Teammitglied des ISC zu treffen. Es ist erstaunlich wie einfach man auf diesem Weg Zugang zu den gleichen Unternehmen bekommt und dass plötzlich viele der Manager und Assistentinnen sogar Englisch sprechen.

Der Lunch mit oben erwähntem Chefredakteur war übrigens in vielerlei Hinsicht beispielhaft für chinesisches (Geschäfts-)Gebaren. Lektion Nr. 1: Niemals Small Talk vergessen. Der hierarchisch Höhergestellte entscheidet dabei mittels eindeutiger Gesten oder Anmerkungen, wann er vom Small Talk zum eigentlichen Grund des Treffens übergehen möchte und das kann mitunter zehn Minuten dauern. Lektion Nr. 2: Beim Essen können die in westlichen Kulturen vermittelten Tischmanieren geflissentlich über Bord geworfen werden. Schmatzen, schlürfen, mit vollem Mund reden, Knochen auf den Tisch spucken oder die Hälfte des Essens stehenlassen – alles kein Problem und bei allen Altersgruppen und Bildungsniveaus analog anwendbar! Lektion 3: Auch wenn das Gespräch partout nicht in die gewünschte Richtung läuft, sollte man niemals das eigene Lächeln verlieren oder gar unhöflich werden. Gespräche können wiederholt werden, eine durch Unhöflichkeit torpedierte Geschäftsbeziehung dagegen ist in China kaum mehr zu kitten.

Trotz Vollzeitjob bei der Credit Suisse, ISC-Tätigkeit und dem mühevollen Erlernen der chinesischen Sprache bleibt mir Gott sei Dank genug Zeit, um nebenbei Stadt, Land und Leute ausführlich kennen zu lernen. Was am Anfang auch aufgrund der weiter oben beschriebenen Umstände noch als „Oh mein Gott! Und hier soll ich es dreieinhalb Monate aushalten?“ begann, hat sich längst zu einem „Unglaublich wie schnell die Zeit vergeht…“ gewandelt. Das Einzige, das ich hier wirklich vermisse, ist die Weihnachtsstimmung. Abgesehen von in Touristenvierteln aufgestellten, blau blinkenden Plastikweihnachtsbäumen und den in Supermärkten in der Dauerschleife laufenden drei Christmas Hits „Jingle Bells“, „Gloria“ und „Rudolph the red-nosed Reindeer“ ignorieren die Chinesen das bekannteste christliche Fest nämlich komplett.

Ich hoffe, Euch mit diesem Artikel einen kleinen aber spannenden Einblick in die Arbeit eines China-Teammitglieds im ISC gewährt zu haben. Nach zwei unvergesslichen Jahren voller Abenteuer, Meetings und jeder Menge lehrreicher Erfahrungen wird meine ISC-Tätigkeit mit dem 42. St. Gallen Symposium enden. Wenn Du Interesse hast, meine Arbeit ab dem Herbstsemester 2012 fortzuführen, so melde Dich doch einfach bei mir für ein zwangloses Informationsgespräch unter boe@stgallen-symposium.org oder martin.boes@student.unisg.ch. Ich bin ab dem 17. Januar 2012 wieder in  St. Gallen und freue mich, Dich kennenzulernen!

Martin Boes (23) studiert im 5. Semester BWL an der HSG und ist seit September 2010  im International Students’ Committee (ISC) tätig. Zunächst verantwortlich für China, Hong Kong und Singapur, fokussiert sich Martin seit August 2011 ausschliesslich auf den Markt China. Er betreibt seine Arbeit für das ISC von Peking aus und absolviert parallel ein dreimonatiges Praktikum bei der Credit Suisse.

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2 Comments

  • Winfried Schratz

    Bin leider zu alt für solche Abenteuer ;-) Hätte mich sonst nach Lektüre dieses Artikels sofort zum nächsten ISC angemeldet! Grüße und weiter viel Spaß und Erfolg Winfried schratz

  • SL

    Interessanter Bericht!

    Ein paar schöne Tage noch und dann einen guten Rückflug. Bis bald in SG, Stefan

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