Jessica, Kevin und ihre Macchiato-Mami, auch genannt der Staat.

Es ist schwer, ein Buch zu rezensieren, das förmlich danach schreit, angegriffen zu werden. Man möchte dem Autor gar nicht den Gefallen tun, über das Geschriebene wütend zu werden, denn das scheint er gerade herausfordern zu wollen. Jede einzelne Seite ist darauf angelegt, zu provozieren. Das Gute ist: es gibt davon nur 91, was das Ärgernis, sich damit zu beschäftigen, rein formell begrenzt. Letztlich glückt dem österreichischen Journalisten Christian Ortner noch nicht einmal die Provokation, zu unreflektiert sind seine Gedankengänge, zu populistisch die Vorschläge.

Ortner startet in seinem 2012 erschienenen Buch den Versuch, eine Krise zu erklären, und zwar nicht irgendeine, sondern DIE Krise der letzten Jahre. Dafür bedarf es zunächst einmal natürlich eines Schuldigen. Es geht darum, einen Verantwortlichen für die enorme Staatsverschuldung und den wirtschaftlichen Einbruch in den europäischen Ländern zu finden. Wenn möglich sollte man ihm auch noch die gesellschaftliche Politikverdrossenheit, das verbesserungsbedürftige Schulsystem und die Verblödung der Medien in die Schuhe schieben können.

Das ist der grosse Auftritt von Jessica und Kevin. Sie, Mitte 20 und arbeitslos, hat Probleme damit, die Lettern des Alphabets auseinanderzuhalten und hält BMW für eine deutsche Automarke mit vier Buchstaben. Er ist ihr Freund und interessiert sich hauptsächlich für Fernsehen und Dosenbier. Durch eine präzise Charakterstudie seiner Protagonisten zeichnet sich Ortner nicht gerade aus, vielmehr bedient er die üblichen Klischees. Trotzdem kann es sein, dass es solche Menschen wirklich gibt. Ortners einigermassen gewagte These lautet aber, in seinen eigenen Worten ausgedrückt: „Der Verdacht liegt nahe, dass Typen wie Jessica und Kevin in der westlichen Demokratie des 21. Jahrhunderts der Souverän sind.“ Weil sie die gesellschaftliche Mehrheit darstellen, haben sie das Sagen, und weil sie das Sagen haben, richten sich die Politiker nach ihrer Meinung. Denn denen geht es schliesslich auch nur um ihre Wiederwahl. Also müssen Jessica und Kevin nur ein bisschen quengeln, schon kommt ihre Macchiato-Mami, auch genannt der Staat, angesprintet und erfüllt ihnen jeden Wunsch, was meistens auf steigende Sozialleistungen hinausläuft. Um die zu finanzieren, macht die Mami zwei Sachen: erstens erhöht sie die Steuern für die Minderheit ihrer Kinder, die sich selbst versorgen können und zweitens nimmt sie ordentlich Schulden auf, denn ihre Enkel und Urenkel sind ihr herzlich egal. Fazit: Jessica und Kevin sind der Grund für die Schuldenkrise, und solange sie die Mehrheit der Bevölkerung darstellen, wird sich die Demokratie unausweichlich pleite wählen.

Zugegebenermassen klingt schon das etwas simpel, wirklich diffus wird es, sobald Ortner versucht, seine These mit Argumenten zu untermauern. Dabei ist ihm alles recht, was irgendwie in seinem Sinn ausgelegt werden könnte. Zum Beispiel zitiert er stolz den Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, der im Kontext der Eurokrise davon spricht, der – demokratisch weniger gut legitimierten – europäischen Ebene mehr Handlungsbefugnisse zuzusprechen, ein paar Seiten weiter empört er sich über das „Monster Brüssel“. Ebenso unklar bleibt, wer genau denn nun zur „Fraktion Jessica“ gehören soll. Zunächst scheinen damit ebenjene bereits erwähnten Profiteure der staatlichen Wohlfahrtsleistungen gemeint zu sein, an einer anderen Stelle im Buch werden sie auch einfach „Parasiten“ genannt. Dann geht es auf einmal um die angebliche Dummheit frischgebackener Maturanten und angehender Studenten – sie sind nicht gerade die ersten, an die man denkt, wenn Jessica und Kevin vorgestellt werden. Irgendwann fragt man sich ratlos, wer denn dann überhaupt noch diese beklagenswerten „Nettobezahler“ sein sollen, von denen Ortner sagt, dass sie den riesigen Bespassungsbetrieb bezahlen müssen. Darauf gibt er keine Antwort, stattdessen setzt er an zu einer wenig überzeugenden allgemeinen Systemkritik (den Chinesen geht es doch auch gut, so toll kann die Demokratie nicht sein), und wenn nichts mehr hilft kommen eben die altbewährten Vergleiche zur NS-Zeit (seht ihr, was Demokratie anrichten kann?).

In diesem Stil sind dann auch die Lösungsvorschläge verfasst, die der Autor schlussendlich präsentiert. Am liebsten würde er allen Empfängern von staatlichen Sozialleistungen pauschal das Wahlrecht entziehen, er sieht aber ein, dass das wohl nicht umsetzbar ist, denn die Jessicas und Kevins sind ja leider in der Mehrzahl. Als Alternative schlägt er einen Wahlführerschein vor, so könnte doch noch all denjenigen, deren Inkompetenz und Dummheit vorhergehend dargestellt wurde, die Entscheidungsbefugnis abgesprochen werden. Glaubt man dem Buch, wären das dann wohl alle Abiturienten, Journalisten, Politiker, Studenten und natürlich die Sozialleistungsempfänger. Übrig bliebe vermutlich nur der Autor selbst. Aber das gefiele ihm wahrscheinlich ganz gut. Es muss ja auch furchtbar anstrengend sein, so alleine zwischen lauter Ignoranten.

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