Selbstdemontage – Ein Kommentar zum Umgang mit dem Resultat der Masseneinwanderungsinitiative

Es ist ein mitleiderregender Auftritt: Mehr als 100 Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik richten einen dringlichen Appell an die Öffentlichkeit zur Rettung der Bilateralen.

Die Promi-Gruppe zeigt sich „tief besorgt“ über „die Verwirrung, in welche die Politik gegenüber ihren europäischen Partnern geraten ist“. Gleichzeitig warnen sie ausdrücklich davor, „den Beitritt der Schweiz zur EU a priori und auf immer aus den europapolitischen Debatten zu verbannen.” Ein solcher Schritt wäre „töricht und brandgefährlich.“

Eins steht klar: Die Schweizer Elite will den Volksentscheid zur Masseneinwanderungsinitiative rückgängig machen. Mehr noch. Der „Abschottung und Selbstisolierung“ sei mit neuen Optionen entgegenzuwirken, die eventuell eine Neuauflage des EWR oder gar den Beitritt zur EU vorsehen. Auch HSG-Professor Thomas Geiser, der aus seiner Abneigung gegenüber dem denkwürdigen Plebiszit nie einen Hehl gemacht hat, zeigt sich Kampfbereit. Mit seiner Bürgerbewegung, die unter anderem von Staatsrechtsprofessor Andreas Auer und Clown Dimitri mitgetragen wird, will er mit Hochdruck Unterschriften sammeln und den neuen Verfassungsartikel 121a umstossen.

Als Schweizer Bürger und Student der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der HSG bin ich erschüttert ob dem rudimentären Demokratieverständnis unserer Intellektuellen. Ihre ablehnende Position zur Volksinitiative „gegen Masseneinwanderung“ ist geprägt von Unaufrichtigkeit und Zeichen einer zunehmenden Abgehobenheit. Die sophistischen Kampfansagen erinnern mich an die aristokratische Herrschaftsform im antiken Griechenland, wo der selbständige Bürger als lästige Einmischung und die Demokratie als Plage dieser Tage betrachtet wird.

Die Irrtümer auf Seiten der Verlierer sind eklatant. Deshalb noch einmal zur Erinnerung: Das Schweizer Volk hat nichts Falsches getan. Es hat sich an ihre Verträge gehalten, die ihr ausdrücklich das Recht zur Revision des Personenfreizügigkeitsabkommen einräumen, wenn wirtschaftliche oder soziale Probleme gegeben sind. Das sind sie nämlich in der Tat: Seit dem Jahr 2007 sind jährlich rund 80‘000 Personen mehr in die Schweiz ein- als ausgewandert. Der Ausländeranteil stieg auf 23.8%. In der Schweiz leben mittlerweile 8’139’600 Personen, zur Jahrtausendwende waren es eine Millionen weniger. Auch die Befürchtungen über den Ausschluss der Schweiz aus dem Europäischen Binnenmarkt sind unbegründet. Die Schweiz hat den liberalsten Arbeitsmarkt in ganz Europa, wahrscheinlich weltweit. Das Pendant in der EU ist geprägt von Unfreiheit und Regulierung, das Heerscharen von Arbeitslosen produziert. Zudem: Die EU verkauft der Schweiz mehr als umgekehrt. Wird sie einen ihrer besten Kunden einfach so fallenlassen? Nein.

Die Schweiz hat am 9. Februar die Hoheit über die Landesgrenzen zurückgeholt, die sie einst abgetreten hat. Sie hat entschieden, die Gesetze eigenständig zu bestimmen, die sie selbst betreffen. Das ist der Kern der Eigenverantwortung, der Inbegriff einer freiheitlichen Ordnung. Den Forderungen unserer Eliten, die uns einer Zwangsordnung des europäischen Rechts unterstellen wollen, ist nicht Folge zu leisten. Vielmehr wollen wir uns weiter für Recht und Freiheit streiten. Dafür müssen wir noch klarer und couragierter auftreten, um den intellektuellen Angsteinflüsterer die Leviten zu lesen!


4 Comments

  • Riccardo Ramacci

    Statt einem rudimentären Demokratieverständnis der intellektuellen Elite, würde ich eher diesem Artikel hier eine verzerrte Wahrnehmung der Realität attestieren. Du beschwörst hier nämlich eine nostalgisches stark idealisiertes Bild der Schweiz, welches es so gar nie gegeben hat, und welches es im Kontext einer globalisierten Staatengemeinschaft mit offenen Grenzen auch nie geben wird.
    Glaubt man diesem Bild, könnte man meinen, die EU bräuchte die Schweiz mehr als die Schweiz die EU und zwar wirtschaftlich und gesellschaftlich. Das ist ungefähr derselbe Verhältnisblödsinn wie wenn man behaupten würde die USA würden ohne den Bundesstaat Maine kollabieren.
    Dass derart komplexe Sachverhalte wie die Bilateralen zu populistischen Ja-Nein Fragen umformuliert werden, die Themen wie Migration und völkerrechtliche Verträge indirekt aneinander koppeln, zeigt zudem, zu welch stumpfem propagandistischen Instrument Volksinitiativen mittlerweile geworden sind.
    Kombiniert wird diese Verzerrung mit einem gefährlich tyrannisches Verständnis von Demokratie. Jenem nämlich, in dem die Mehrheit zur unfehlbaren gar absolutistischen Instanz verklärt wird, deren Entscheide mit allen Mitteln durchgesetzt werden sollen.
    Welcher Intellektuelle, der diesen Titel auch verdient, sollte sich gegen solche Entwicklungen nicht zur Wehr setzen?

    • Matthias Müller

      Hallo zusammen, besten Dank für das Interesse an meinem Artikel und eure Kommentare.

      Zunächst will ich einmal etwas klarstellen: Niemand ist gegen Zusammenarbeit mit der EU. Die Schweiz will Handel treiben. Internationales Einvernehmen, Austauschprogramme auf allen Gebieten – jedermann ist dafür. Das unterzeichnete Freihandelsabkommen von 1972 ist der Beweis dafür. Mit der Gründung der Bilateralen hat sich der Einfluss der EU auf das tägliche Leben verstärkt. Wir übernehmen ständig neue Regeln, obwohl wir NICHT Mitglied der EU sind. Für ein unabhängiges Land wie die Schweiz ist das nicht gerade unprekär. Deshalb ist es höchste Zeit für einen geordneten Ausstieg. Den ersten Schritt dabei markierte die MEI. Sie fordert kein Ende der Beziehungen, sondern eine massvolle Steuerung der Migrationspolitik – so wie es die USA, Australien und Kanada seit Jahren praktizieren, ohne dass irgendjemand auf die Idee käme, diesen Ländern Fremdenfeindlichkeit und Isolationismus vorzuwerfen. Wäre die Schweiz tatsächlich so abhängig von der EU, dass sie ohne sie nicht mehr überleben könnte, hätte man die Verträge sowieso schon lange künden müssen – wir wollen ja keine Kolonie sein, nicht wahr? Zum viel besungenen Modell einer grenzenlosen Welt: Es gibt kein historisches Beispiel, das mit einem schrankenlosen Personenverkehr nachhaltig Erfolg hatte. Wenn ein reiches Land seine Grenzen öffnet, ist ein Zustrom von weniger reichen Menschen unausweichlich. Es tritt ein Wohlstandgefälle ein. Dieser wird auf dem Buckel der Allgemeinheit ausgetragen.

      Zur Demokratie: Das Urteilsvermögen des Volkes ist nicht über alle Zweifel erhaben. Nichtsdestotrotz attestiere ich ihm Rechtschaffenheit und Mündigkeit und glaube nicht, dass die “leichtgläubigen Massen” den verführerischen Ideologien von Rattenfängern auf den Leim gekrochen sind. Letzten Endes ging es in dieser Abstimmung um die Staatsräson. “Die Schweiz steuert die Zuwanderung eigenständig.” Ich glaube, das Volk war genug aufgeklärt, um einen Beschluss über diese Regelung zu fassen. Hierfür braucht es kein akademisches Leistungszertifikat, sondern das starkes Bewusstsein für eine selbstbestimmte Schweiz.

      Zukunft: Was der freiwillige, direktdemokratisch beschlossene Ausstieg der Schweiz aus der Personenfreizügigkeit für die Beziehung zur EU bedeuten wird, lässt sich noch nicht eindeutig abmessen – weder für einen Schreiner noch uns Studierenden. Tröstlich sind aber zwei Dinge: 1) Man kann nun endlich bilateral auf Augenhöhe miteinander diskutieren – wobei eine Vertragspartei natürlich das Recht hat, Neuverhandlungen auszuschliessen und somit die Verträge zu künden. 2) Die grosse Verärgerung und die zum Teil heftigen Reaktionen zeigen, dass viel auf dem Spiel steht, auch für die EU. Ich glaube nicht daran, dass die Bilateralen fallen werden. Zudem: Deutschland zeigt sich gesprächsbereit (http://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/schweiz-erhaelt-schuetzenhilfe-aus-deutschland-128489393). England verfolgt Reformpläne (http://www.nzz.ch/international/europa/britische-quoten-fuer-eu-arbeitskraefte-1.18407114). Ich hoffe fest, dass die EU und die CH einen neuen Vertrag im gegenseitigen Interesse werden abschliessen können.

  • Kevin Kohler

    Sicherlich mag es, wie nach jeder Abstimmung, (elitäre) Kreise geben, welche ein Interesse an bestimmten Interpretation des Textes haben. Die Umsetzung der Initiative ist allerdings auch kein Selbstläufer, weil eben nicht nur die CH davon betroffen ist und es gegebenenfalls auch eine Abstimmung über die Bilateralen braucht (darüber wurde am 9. Februar nicht abgestimmt). Der von dir angesprochene Appell ist explizit “kein Plädoyer für eine bestimmte Form oder einen bestimmten Inhalt unserer Beziehungen zur EU” sondern eine Aufforderung “sich an einem sachlichen und an Tatsachen orientierten Europa-Dialog zu beteiligen”. Was mir persönlich mehr Angst macht als dieser Appell ist der um sich greifende blinde Anti-Elitarismus, welcher genau mit solch populistischen Aufrufen zum “Kampf gegen die Eliten” noch gefördert wird. Ich bin der letzte der für Elitarismus einsteht, aber wenn ich etwa in der 20min Kommentarspalte Dutzende von (upgevoteten) Kommentaren mit Aussagen wie “der Bundesrat ist dagegen, also bin ich aus Prinzip dafür” lese, kommt mir das Kotzen und ich frage dich was ist denn das für ein Demokratieverständnis, wenn man nicht aufgrund des Inhalts einer Initiative abstimmt sondern einfach um seinen “Protest” kundzutun? Das ist zwar nur implizit im Text enthalten, aber die ECOPOP-Initiative ist NICHT die MEI-Initaitive und wer sie als “Durchsetzungsinitiative” dafür missbrauchen will, macht einen faustischen Pakt, der ganz schief gehen kann!

  • Gabriel Züllig

    Das, was du mit “rudimentärem Demokratieverständnis” meinst, nenne ich Haltung!

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