Angst vor der Freiheit?

Der Mensch scheint entfesselter von jeglichen Grenzen als je zuvor. Doch der Mythos der vielen Unterschiede zwischen den Geschlechtern hält sich im Alltag hartnäckig.

Zürich, 18. März: Mehr als 10 000 Menschen zogen los in einem rosa Meer, um dem Rechtspopulismus und der Diskriminierung all jenen, die wegen ihrer Herkunft oder ihrer sexuellen Identität von der globalen und auch der Schweizer Gesellschaft zu wenig respektiert werden, den Kampf anzusagen. Vor ein paar Jahrhunderten hätte Giambattista Moroni, ein Künstler aus der späteren Renaissance noch verwundert den Kopf geschüttelt, hätte er erfahren, dass feministische Strömungen später einmal Pink zu ihrer Farbe küren würden. Er selbst hatte Adlige noch in leuchtendem Hellrot gezeichnet. Immerhin war Rot früher doch die Farbe der Männer und Rosa – das «kleine Rot» – die Farbe der Jungs. Würde sich heute ein Junge mit komplett rosa Kleidung auf den Spielplatz wagen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ihn seine Kameraden schief anschauen. An der HSG wurde auch schon oft ein männliches Wesen mit einem rosa Hemd erblickt. Ob das eine Anspielung an das früher nur den Adligen zustehende Purpur sein soll oder wohl eher ein Indiz dafür, dass sich dieses Individuum von solcherlei gesellschaftlichen Vorstellungen befreit hat, sei dahingestellt.

Macht der sozialen Normen

Seitdem Trump, der mit seinem «grab them by the pussy»-Kommentar für einen weltweiten Aufschrei gesorgt hat, auch noch gewählt wurde, scheint sich überall die Frage aufzudrängen, wieso gerade der? Ein Psychoanalytiker in der NZZ meinte dazu, dass der «schreckliche Kulturrelativismus» von heute, der «alles gleichmachen möchte», bei dem «nichts mehr biologisch festgelegt» sei, dazu beiträgt, dass ein Wunsch nach «Übervätern» immer stärker wird. Was hinter der als «Gleichmacherei» betitelten Theorie steht, ist die Vorstellung, dass sich erst aus der Interaktion von Sex und Gender die korrekte Vorstellung von sexueller Identität ergeben soll. Sex, unser biologisches Geschlecht, sprich biologisch gesehen Mann, Frau oder intersexuell sein, steht in einem komplexen Verhältnis zu Gender, dem sozialen Geschlecht. Im Begriff Gender werden gesellschaftliche Vorstellungen davon vereint, wie ein Mensch eines bestimmten biologischen Geschlechts sein, erzogen werden, wen er lieben und begehren soll. Diese Vorstellungen können je nach Kulturkreis, persönlichem Umfeld und Zeitraum variieren. Es handelt sich also um soziale Normen, die unbemerkt viel Macht und Einfluss auf uns als gesellschaftliches Gefüge aber auch auf das einzelne Individuum ausüben können. Diese sozialen Normen bestimmen bewusst und auch unbewusst, was für uns denkbar ist.

Alltagsgeschichten im Sog der Klischees

Es sterben mehr Frauen wegen falscher ärztlicher Behandlung eines Herzinfarkts als Männer, da die von ihnen gezeigten Symptome oft als typisch weiblich emotionale Überreaktion interpretiert werden, statt als Symptome eines Anfalls. Männer hingegen stehen je nach persönlichem Hintergrund immer noch stärker beruflich unter Druck. Die Anerkennung, welche einer Mutter für eine Tätigkeit im häuslichen Bereich erfährt, wird einem Vater noch immer nicht zuteil. Das Gleiche gilt auch für als typisch weiblich wahrgenommene Berufe, wie Kindergärtnerin und Pflegefachpersonen, bei denen Männer immer noch stark untervertreten sind. Binäre Gendererwartungen beeinflussen uns nicht nur unbewusst, sondern versperren auch den Weg zu Macht und Status: Homosexuelle Männer verdienen durchschnittlich schlechter als heterosexuelle Männer, während bei homosexuellen Frauen das Gegenteil zu beobachten ist. Das hängt wohl mit der verbreitenden Vorstellung zusammen, dass homosexuelle Männer eher feminin und homosexuelle Frauen eher maskulin seien. Wie uns diese sozialen Normen täglich beeinflussen, ist äusserst vielseitig.

Schlag mit der Biologiekeule

Wenn man sich dann mit «Frauen sind so»- und «Männer denken so»-Rednern auf eine Diskussion einlässt, wird gleich die Biologiekeule geschwungen. Biologisch gesehen wären Männer und Frauen unterschiedlich, nur Frauen könnten Kinder gebären, nur Männer auf einer Baustelle arbeiten. Dabei geht es gar nicht darum, die etwa zwei Prozent genetischen Unterschiede zu verneinen oder der Biologie den Rücken zu kehren. Es geht darum, dass zu viele Unterschiede, die angeblich biologisch begründet sind, empirisch noch nicht genügend nachgewiesen wurden oder sogar auf dem besten Weg sind, widerlegt zu werden. Das Klischee, Frauen seien schlechter in Mathe und Männer weniger fürsorglich und emphatisch, hält sich in unserer Gesellschaft immer noch hartnäckig. Pisa-Studien haben mittlerweile gezeigt, dass Mädchen gleich gut rechnen können wie Knaben, und dass beide Geschlechter bessere mathematische Fähigkeiten aufweisen, wenn der Gender Gap in einem Land geringer ist. In Mexiko und in Kanada wurden zwei je ausschliesslich männlichen und weiblichen Versuchsgruppen tragische Bilder und Filme gezeigt und dabei ihre Hirnströmungen lokalisiert, um ihre neurologische Reaktion verorten zu können. Während die Hirnaktivitäten bei der Erfahrung von Mitgefühl und Empathie von Männern und Frauen bei der mexikanischen Gruppe noch frappant unterschiedlich waren, hatten sich dieselben bei der kanadischen schon stark angenähert, was gemäss den Studienverantwortlichen am Einfluss unterschiedlich soziologischer erlebter Prägung bezüglich der Rollenverständnisse in den beiden Länder liegen könnte.

Ran an die Zündschnur

Es geht also bei der ganzen «Gleichmacherei» nicht darum, die wahre Kultur zu relativieren, sondern Dinge, die als absolute Wahrheiten so tagtäglich hingenommen werden, zu hinterfragen. Es geht um die Erkenntnis, dass die rein binäre Betrachtungsweise der Geschlechter uns den Blick auf unsere Gemeinsamkeiten verstellt und uns vorgaukelt, Männchen und Weibchen wären von der Persönlichkeit her immer viel unterschiedlicher als Personen «gleichen» Geschlechts untereinander. Wie leidenschaftlich solche Diskussionen in unserer Gesellschaft geführt werden, steht beispielhaft dafür, welche Macht diesen Vorstellungen zukommt. Gerade solche Erkenntnisse ermöglichen es uns einmal, ein freieres und diverseres Leben führen zu können und persönliche Facetten ausleben zu dürfen, ohne dabei kritisch beäugt zu werden. Der Mut, soziale Normen zu reflektieren, ist wie ein Griff zur Zündschnur, um alle diese Fesseln zu sprengen, die uns davon abhalten, gemeinsam unser Potenzial zu erreichen.


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