Ausweisung aus dem Dorfe

Eine Kurzgeschichte

So, weiter als bis hierhin kann ich Sie leider nicht begleiten, sagt der Beamte und stellt meine Tasche ab. Ohne mich zu fragen, hat er sie genommen, als wir aus dem Auto ausgestiegen sind, und bis hierher getragen. Ich hätte das auch selbst hingekriegt. Leicht ist sie, mager fast schon. Viel konnte ich nicht einpacken in der kurzen Zeit. Der Rest werde mir nachgeschickt, hiess es.

Der Beamte steht da wie ein Page, den rechten Arm hinter dem Rücken, den linken ausgestreckt, gen Westen, wo in ein paar Stunden die Sonne untergehen wird. «Vielen Dank, dass Sie uns mit Ihrer Präsenz beehrt haben. Wir wünschen Ihnen alles Gute und hoffen, Sie bald als Besucher wieder bei uns im Dorf begrüssen zu dürfen. Ich muss Sie jetzt bitten…» Und er zeigt gegen die Grenze, die mir zu überschreiten geboten ist. Ich nehme meine Tasche auf, zögere aber noch. Der Beamte schaut mich erwartungsvoll, nein, fragend an. Ich winke ab, denn mehr als auswendig gelernte Phrasen kann ich von ihm nicht erwarten, und mache den entscheidenden Schritt. Dann drehe ich mich um, aber er hat sich schon abgewendet und geht zu seinem Auto zurück, das mitten auf der Strasse steht.

Während der Fahrt sprach er kein Wort mit mir. Generell war er wortkarg, sagte nur das, was er sagen musste. Meine Fragen beantwortete er – natürlich, denn es werden wohl alle Fragen haben, wenn sie morgens um sieben geweckt und mit der Ausweisung konfrontiert werden. Aus Selbstschutz des Dorfes, wie er sagte; man müsse sich beschützen vor Überfremdung und Wertverwischung. Drei Jahre hatte ich im Dorf studiert, fühlte mich mehr und mehr zuhause, und trotzdem blieb ich fremd. So fremd, dass ich am Tag nach meinem Abschluss zur Grenze gezerrt und hinausgeworfen werde.

Das alles ging mir durch den Kopf, während ich aus dem Fenster des Beamtenautos schaute. Der Staatsdiener schaute stur geradeaus, während ich die Häuser an meiner Strasse betrachtete. Nein, fremd hatte ich mich eigentlich nie gefühlt hier, jedenfalls nicht fremder als die, die jeden Tag ebendiese Strasse hinunterfahren, von auswärts kommend, um im Dorf zu arbeiten. Im Gegenteil, sobald sich mein Mittelländer Akzent ein wenig verlaufen und ich mich an die eigenartig zurückhaltende Freundlichkeit der Dorfbewohner gewöhnt hatte, fühlte ich mich wohl.

Und trotzdem muss ich jetzt gehen. «Vielen Dank, dass Sie das Dorf besucht haben! Uf Widerluege.» Die schweizerdeutsche Floskel würde ich natürlich auch nach drei Jahren noch immer anders aussprechen als ein Einheimischer. Das -er- wird bei ihnen beinah zu einem O-Laut, der sich für Auswärtige kaum aussprechen lässt. Oder zu einem schwedisches Kringel-A vielleicht. Uf Widåluege. Am Dialekt konnte ich nie richtig meinen Gefallen finden, und trotzdem ist mir das Dorf ans Herz gewachsen. Der Kern im Tal zwischen den zwei Hügeln mit den vielen kopfsteingepflasterten Gassen, den Cafés und Erststockbeizen, die drei Weiher – oder Weihå – und die Altstadt. Ein Ort, wo jeder jeden kennt und man so selbst schnell einen grossen Bekanntenkreis hat.

Der Beamte steht, an die offene Tür gelehnt, und wartet noch. Ich muss also wirklich gehen. Gen Westen, wo die grosse weite Welt wartet, auf die ich mich drei Jahre lang vorbereitet habe, im Dorf. Ich kehre ihm den Rücken zu und laufe los.

Der Autor hat mit der HSG noch nicht abgeschlossen und könnte sich auch vorstellen, danach noch eine Weile in St. Gallen zu bleiben. Wenn er denn darf.


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