Beziehungen in der heutigen Zeit

Eine Beobachtung zum Wandel des Beziehungsbegriffs

Noch bis zur Generation unserer Grossväter und Grossmütter bestand in Europa ein christliches Beziehungsideal, welches aus Heirat verbunden mit lebenslanger Treue bestand. In diesem Modell fand zwar nicht jeder seinen Traumpartner und wahrscheinlich gab es einige sehr unglückliche Ehen, die von der Familie und Gesellschaft erzwungen wurden. Bemerkenswert bei diesem System war jedoch, dass das evolutionäre Beziehungsmodell aus den Anfängen der Menschheit, bei dem nur die mächtigsten, stärksten und attraktivsten Menschen zu einer Beziehung kamen, ausgehebelt wurde. Durch den gesellschaftlichen Zwang zur Heirat kamen auch weniger erfolgreiche, starke, schöne oder intelligente Menschen in den Genuss einer Beziehung. Ausserdem galt ein Scheitern der Ehe als grosses Unglück. Dadurch mussten sich Paare häufig zusammenreissen, um ihre Beziehung zu retten.

Durch die 68er-Bewegung und die Emanzipation der Frauen in den 70ern kam es dann zur so genannten sexuellen Revolution. Freie Liebe, jede mit jedem, wer zweimal mit derselben pennt … Die Parolen sind bekannt. Die Leute konnten ihre Beziehungen ab jetzt weitgehend frei von gesellschaftlichen oder familiären Zwängen gestalten. Wie der französische Autor Michel Houellebecq in seinem Roman «Ausweitung der Kampfzone» treffend beschrieben hat, galten diese neuen Freiheiten bei der Partnerwahl jedoch bei weitem nicht für jedermann, sondern vor allem wieder für die Erfolgreichen, Schönen und Starken. Für diese waren häufig wechselnde Beziehungen bis anhin nicht erlaubt gewesen. Für weniger erfolgreiche Männer und Frauen, denen bis in die 60er-Jahre eine Beziehung und Ehe sicher war, dürfte die Entwicklung weniger vorteilhaft gewesen sein. So ist in Houllebecqs Roman der Kollege der Hauptperson so unattraktiv, dass er bis in seine 30er niemals eine wirkliche Beziehung zu einer Frau hatte.

Das liberale 68er-Beziehungsmodell wurde bis in die heutige Zeit stetig weiterentwickelt. Die Medien tragen mit Berichten über enorm schöne und erfolgreiche Menschen zur Ausweitung der Kampfzone bei. Nicht selten entwickeln so auch «normal» attraktive oder «normal» erfolgreiche Menschen sehr überzogene Ansprüche an ihre Beziehungen. Auch ein «Mr. Mediocre» will sich mit nichts weniger als einer «Miss Perfect» zufrieden geben (und umgekehrt). Andererseits fallen Durchschnittsbürger, deren Qualitäten nicht sofort ersichtlich sind, immer häufiger durch das Raster. Und selbst wenn sich nun zwei Menschen finden, wird die Beziehung durch höchste Ansprüche an Freiheit und Ungebundenheit enorm erschwert. Beim ersten Widerstand wird sie häufig aufgegeben. Das Resultat: Wir leben in einer Single-Gesellschaft.

Natürlich ist jede Freiheit, die es dem Menschen erlaubt, sein persönliches Glück zu verfolgen, grundsätzlich zu begrüssen. Wenn es jedoch um Beziehungen geht, habe ich das Gefühl, dass wir mit dieser Freiheit häufig nicht umgehen können.

Manchmal beneide ich meine Grosseltern.


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