Borderline – Am Scheideweg

Als Robert seine Ex-Frau Ingrid kennenlernt, weiss er nicht, worauf er sich einlässt. 20 Jahre verbringt er mit einer Borderline-Patientin – der Abriss einer bewegenden Beziehung.

Ein Wahn ist formal ein Gedanke, ein plötzlicher Einfall, eine Sinnestäuschung. Wahn heisst dabei aber auch, dass die Realität falsch eingeschätzt wird und dass daran selbst dann festgehalten wird, wenn die Wahrnehmung und das Empfinden der Mitmenschen signifikant von der eigenen abweichen. Eine solche Wahrnehmungsstörung kann verschiedene Formen annehmen – inhaltlich kann zum Beispiel zwischen Verfolgungs-, Eifersuchts- oder Grössenwahn unterschieden werden. Bei einer «folie à deux» werden sogar der Partner oder andere Bezugspersonen in die eigene Wahnidee miteinbezogen. Allerdings gibt es nicht nur den Wahn im medizinischen Sinne, sondern auch den «Wahnsinn der Normalität», eine Wahrnehmungstäuschung oder überbewertete Ideen, denen ganze Kulturen und Epochen anheimgefallen sind, nehmen wir nur mal als Beispiel den Glauben an Hexen und ihre Verfolgung. Als «Wahnsinn der Normalität» ist die Geschichte von Robert* und seiner (Ex-)Frau Ingrid* sicherlich nicht zu bezeichnen. Als der Pharmaberater seine spätere Frau in einem Dancing in Zug kennenlernte, merkte er zunächst nicht, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Obwohl sein Umfeld, sogar sein Bruder, ein Arzt, ihn immer wieder darauf hinwies, dass mit seiner Freundin etwas nicht in Ordnung sei, ignorierte er ihre Bedenken, «wahrscheinlich wollte ich auch einfach nichts merken». Es sei ihm zwar aufgefallen, dass sie Dinge, die durchaus positiv gemeint waren – Komplimente, Geschenke – im Nachhinein negativ und falsch interpretierte. Dieses Verhalten führte er aber auf Ingrids traumatische Erfahrung mit ihrem Ex-Partner zurück, der sich das Leben nahm, nachdem er versucht hatte, sie und ihr gemeinsames Kind zu töten.

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Wanzen im ganzen Haus

Als Nora*, das erste gemeinsame Kind von Robert und Ingrid, auf die Welt kam, traten die Symptome erst richtig zu Tage: «Meine Frau war nach der Geburt noch etwas länger im Krankenhaus. Da es mein erstes Kind war, habe ich mir nicht viel dabei gedacht, ich nahm an, es sei eine postnatale Psychose. Wegen einer Schulung musste ich zwei Monate nach der Geburt für drei Monate nach Deutschland reisen und war jeweils nur am Wochenende zuhause. Ingrid rief mich jeden Tag an, oft stundenlang, und erzählte, dass ständig Menschen ins Haus kämen und sie Angst um unser Kind habe.» Mit der Geburt von Frank*, dem zweiten gemeinsamen Kind der beiden, wurde es noch schlimmer. Wahnvorstellungen bestimmten komplett ihren Alltag, sie sei der festen Überzeugung gewesen, dass das gesamte Haus verwanzt sei, so Robert weiter.

«Nach der Sache mit ihrem Ex- Partner war Ingrid zwar in einer kurzen psychiatrischen Behandlung, hat diese aber abgebrochen und selbst auf mein Bitten hin nicht wieder aufgenommen», so Robert. Da er als Pharmavertreter arbeitete und während der Zeit seiner Ehe zu den Psychopharmaka wechselte, musste er zum Thema psychische Erkrankungen Schulungen besuchen. Da sei ihm, trotz der Alarmzeichen zuvor, erst wirklich bewusst geworden, dass seine Frau krank sein musste. Über den Wechsel zu den Psychopharmaka sei er glücklich gewesen, da er so eine Möglichkeit sah, seiner Frau zu helfen. «Ich konnte gewisse Symptome erkennen und vereinbarte deshalb selber einen Termin bei einem Psychiater. Wir machten dann auch eine Paartherapie, die aber leider erfolglos blieb – alle mussten sich ändern, nur sie nicht.»

Faustschläge ins Gesicht

Adolf Stern, ein US-amerikanischer Psychoanalytiker, beschrieb 1938 eine Reihe von Symptomen, die in einem Übergangsbereich zwischen Neurose und Psychose gehören, und bezeichnete Betroffene als «border line group». Bei den Symptomen ist insbesondere eine Instabilität des Selbstbildes als prägendes Element der Erkrankung zu nennen: Bei Selbstbeurteilungen werden von den Patienten oft Sätze wie zum Beispiel «Ich erlebe mich zu verschiedenen Zeiten auf völlig verschiedene Weise» angekreuzt. Weiter leiden die Betroffenen oft unter einer mangelnden Impulskontrolle; Wutausbrüche enden auch in körperlichen Auseinandersetzungen. Solche Ausbrüche hat auch Robert zu spüren bekommen: «Mitten in der Nacht schlug sie mich oft mit der Faust ins Gesicht. Im Streit warf sie Dinge nach mir. Es gab Nächte, in denen ich mich mit den Kindern in einem Zimmer verbarrikadieren musste; wenn sie solche Anfälle hatte, entwickelte sie eine unglaubliche Energie.» Borderliner neigen dazu, ihre aktuelle emotionale Situation an ihr soziales Umfeld weiterzugeben. Schon kleinste Ereignisse können sehr starke Gefühle auslösen. Problematisch ist dabei, dass die eigenen Gefühle oft den Mitmenschen zugeschrieben werden. Eine solche Projektion dient aber nur als Abwehrmechanismus gegenüber eigenen Empfindungen.

1993 wurde Ingrid zwangseingewiesen. «Sie hat oft mit Selbstmord gedroht. Aber an dem Tag, an dem ich sie zwangseinweisen liess, drohte sie auch mir und den Kindern mit dem Tod, da konnte ich nicht mehr», erzählt Robert. Während des Aufenthalts in der Psychiatrie wurde eine weitere Schwangerschaft, mit dem zweiten Sohn der beiden, Lorenz*, festgestellt, weswegen die Medikation sofort eingestellt wurde. Nach der Geburt von Lorenz war das Paar auf Drängen von Ingrid hin gerichtlich für eine kurze Zeit getrennt. Wegen der Überforderung von Ingrid und für das Wohl der Kinder kamen sie aber wieder zusammen. 2007 reichte Robert dann die gerichtliche Trennung ein – dies im Wissen, dass die Kinder vor Gericht aussagen konnten; der jüngste Sohn war nun zwölf Jahre alt. «Ich liebte Ingrid nicht mehr. Die Gefühle haben sich im Verlauf der Jahre reduziert, irgendwann waren sie völlig verloren. Trennen wollte ich mich vor allem zum Schutz der Kinder.» Um seiner Frau klarzumachen, dass es endgültig aus sei, habe er irgendwann eine imaginäre Freundin erfunden. «Sie hat Arbeitskolleginnen von mir mit Anrufen terrorisiert und mir immer wieder Eifersuchtsszenen gemacht. Das war irgendwann einfach zu viel», erläutert er seine Notlüge.

Das Leben danach

Die andauernde Belastung, die durch Ingrid in der Familie entstand, ging nicht ohne Spuren an den Kindern und Robert vorbei: «Sie schlug die Kinder, was ich aber erst später erfuhr. Es gab Momente, in denen sie eine liebevolle Mutter war, und dann ignorierte sie die Kinder plötzlich wieder. Nora und Frank lebten vorübergehend in einem Heim und waren in psychologischer Betreuung. Der Jüngste lehnte eine Behandlung ab. Natürlich versuche ich, ihnen seit der Trennung ein so normales Leben wie möglich zu bieten, aber jeder von uns hat seinen Schaden aus diesen Jahren genommen. Es war und ist nicht einfach, sich auf ein normales Leben einzustellen.» Während der 20-jährigen Ehe wurden auch die gemeinsamen Freunde immer weniger, sei es, weil Ingrid sie nicht mehr im Haus sehen wollte oder weil sie sie mit Anrufen terrorisierte und belästigte. «Sie stritt stets ab, die Anrufe getätigt zu haben, und behauptete, jemand hätte sie zusammengeschnitten und unter ihrem Namen angerufen. Sie war komplett paranoid.»

Heute lebt Robert mit seiner neuen Lebensgefährtin, ihren und seinen eigenen Kindern zusammen und versucht, die vergangenen 20 Jahre mit seiner Ex-Frau zu verarbeiten. «Ich habe sie wirklich geliebt. Ich dachte immerzu, wenn man einmal in der Kirche Ja gesagt hat, dann sagt man für immer Ja. Aber irgendwann habe ich realisiert, dass auch ich nur ein Mensch bin.» Er muss sich nun daran gewöhnen, wie es ist, mit einer geistig gesunden Frau zusammen zu sein. Über Ingrid weiss er nicht sehr viel Neues, nur dass sie nach wie vor beruflich wie auch privat keine Freundschaften schliessen kann und weiterhin mit ihren Wahnideen lebt. «Sie wird wohl ihr Leben so weiterführen und nicht realisieren wollen, dass sie krank ist.»

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*Namen der Redaktion bekannt

Borderline
Zu den Symptomen einer Borderline-Erkrankung zählen unter anderem eine Instabilität des Selbstbildes, eine mangelnde Impulskontrolle und eine Idealisierung beziehungsweise Entwertung zwischenmenschlicher Beziehungen. In der Schweiz leiden circa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung an der Erkrankung, wobei Borderline häufiger bei Frauen diagnostiziert wird.


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