Das Märchen von den gerechten Noten

Noten spielen an der HSG, der Quelle der Leistungsgesellschaft, eine zentrale Rolle – ob uns das passt oder nicht. Ist unsere Benotung gerecht? Oder ist es ohnehin wahrscheinlicher, einen Weg durch den dunklen Wald anhand von Brotkrumen zu finden, als gerechte Noten zu verteilen?

Es war einmal ein Volk von Noten, das lebte zurückgezogen und zufrieden in einem kleinen, Dorf in den Alpen. Von anderen Völkern oft als kleine Taugenichtse oder unberechenbare Fieslinge verschrien, waren sie doch eigentlich ganz friedliebende Geschöpfe – für den überwiegenden Teil des Jahres. Zweimal im Jahr nämlich verliessen die Noten ihre wohlige Heimat und zogen in den Kampf gegen die Bewohner aus den drei eidgenössischen Talschaften Bewe-Ell, Vauwe-Ell und MüstIAr, die von den Kriegern aus den Provinzen Law und LawEco unterstützt wurden.

Die eigenwilligen Noten waren weitherum bekannt für ihren ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Wenn sie sich zum Kampf aufmachten, war ihr Ziel deshalb nie, alle Bewe-Eller und Vauwe-Eller zu töten. Sie wären dazu durchaus in der Lage gewesen, denn die Bewohner dieser Dörfer boten stets genug Angriffsfläche, sie sofort zu besiegen: Sie feierten rauschende Partys und vertrauten beim Kämpfen viel zu sehr auf die Kraft kleiner weisser Kärtchen, die sich leicht zerstören liessen. Doch der Dorfälteste, den die Noten liebevoll «Gallus Gauss» nannten, hatte es ihnen anders beigebracht: «Meine lieben Noten», sprach er jeweils mit tiefer, mahnender Stimme, «wir sollten nicht sinnlos Blut vergiessen; wir sind nämlich Noten, die ein gerechtes Urteil über Leben und Tod unserer Widersacher sprechen sollen.» Immer wenn Gallus Gauss sprach, erinnerten sich die Noten an die ihnen übertragene Verantwortung. Um sie nicht zu missbrauchen, entschieden sie, sich selbst generell-abstrakte Normen aufzuerlegen: die Gauss’sche Glockenkurve war geboren und wurde weit über das Dorf hinaus zum Symbol für die Notengerechtigkeit.

Der Heilige Gral

In den Seelen der tapferen Krieger ausserhalb des Noten-Dorfes wird indessen ein anderer Ton angeschlagen: «Die Noten dieses Kampfes sind alles andere als fair. Sie besitzen ungefähr das Gerechtigkeitsverständnis des bösen Wolfes, der sich als hilflose Grossmutter verkleidet!», schreien die verletzten Ritter, die sich falsch behandelt fühlen. Die Bewohner der einzelnen Talschaften bezichtigen sich immer wieder gegenseitig, in der grossen Schlacht gegen die Noten zu einfach davonzukommen. Es hält sich das Gerücht, dass die edlen Krieger aus dem Marketing-Quartier von Bewe-Ell viel einfacher zu einem Durchschnitt von 5.5 kommen als der Barbar mit Major Law & Economics; dass der Durchschnitts-Jurist im Bachelor eine 4.5 erreicht, während man im CEMS-Master spielend an eine Note zwischen 5.5 und 6 kommt.

Leider bleibt der Schlüssel zur Schatztruhe von Gallus Gauss und damit der Zugang zum Heiligen Gral der Benotung verschollen – obschon man in diesem Fall immerhin weiss, dass er existiert, denn die Universität sammelt genaue Daten für jeden Studiengang und jede Vorlesung und wertet sie regelmässig aus. Doch dieses mystische Wissen bleibt neben der Appenzeller Kräutersulz wohl das bestgehütete Geheimnis.

Die Fakten, die trotzdem nach aussen drangen: Das Assessment schliesst man im Schnitt mit einer 4.8 ab. Danach haben Juristen und Politologen tatsächlich weniger gute Aussichten auf einen hohen Notenschnitt. Alle Bachelor-Studiengänge haben jedoch einen Notenschnitt zwischen 4.5 und 5.0 – die Juristen eher am unteren Ende, die Betriebswirte eher am oberen. Eine Verpflichtung, die Noten innerhalb eines Kurses normal zu verteilen, gibt es nicht. Und im Master sind die Notenschnitte höher, nämlich zwischen 5.0 und 5.3. Einsame Spitze: Die CEMS-Kurse schwimmen oben auf, ihr Notenschnitt beträgt über 5.5. Sind das die Auswüchse der Ungerechtigkeit, wie sie sich nur der düsterste Märchenautor ausdenken kann?

Unterschiede – und ihre Erklärung

«Es gibt diese Unterschiede in den Notendurchschnitten, darüber sind wir uns bewusst», gibt Vito Roberto, HSG-Prorektor für die Lehre, zu. Die «Ungerechtigkeitsthese» (BWL-Kurse sind einfacher), ist allerdings nur der einfachste von vielen Erklärungsversuchen: Studenten mit geringen Erfolgsaussichten tendieren dazu, Jus-Kurse zu wählen; einige Studiengänge haben einen höheren Anteil an Pflichtfächern (in denen man tendenziell schlechtere Noten schreibt) zu belegen, beziehungsweise die gross angelegten BWL-Pflichtfächer prüfen «einfachere» Aufgaben; BWLer gehen eher in den Austausch, wo tendenziell höher gescort wird – oder sie wissen sich ihre Kurse noteneffizienter auszusuchen. Nimmt man Kontextstudium und Bachelor-Arbeit hinzu, bei denen alle die gleichen Voraussetzungen haben, müssen die Unterschiede, die wirklich kausal dem Schwierigkeitsgrad eines Majors zugeordnet werden können, im Hundertstelbereich liegen.

Denn wie in jeder Truppe gibt es an der HSG jene Dienstleistenden, die den Weg des geringsten Widerstands wählen und andere die wirklich gefährlichen Schlachten kämpfen lassen – die Trittbrettkrieger. Eine geschickte Wahl des Studiengangs, der Fächer, der Professoren, der  Abschlussarbeiten und des Austauschorts kann den Schnitt durchaus um über eine halbe Note nach oben ziehen. Es kursieren gar Listen mit Fächern, in denen nie weniger als die Note 5.5, ja zum Teil nie weniger als eine 6, vergeben wurde. «Aber auch im Wahlbereich gibt es Notenschnitte auf dem ganzen Spektrum von 3.7 bis 6.0», meint Roberto. Von einer Häufung am oberen Rand dieses Spektrums hört man trotzdem erstaunlich oft: Auch für motivierte Studenten ist das ein starker Anreiz, andere für sich kämpfen zu lassen und trotzdem ein Stück von der fetten Beute zu ergattern. Die Konsequenz: «ein Fächer-Potpourri, mit dem Sie bei keinem Arbeitgeber werden punkten können», so Roberto, der sich der Schlupflöcher durchaus bewusst ist.

Mehr Transparenz!

Sich ungerecht behandelt fühlen ist das eine – komplett ahnungslos über die eigene Leistung zu sein das andere. Wer möchte nicht wissen, wo er
oder sie persönlich steht und gegen wie viele der Mitstudenten man sich hat durchsetzen können? Wettbewerb ist doch ein integraler Bestandteil dieser Universität und trotzdem können wir nur knapp abschätzen, ob wir uns in der oberen oder unteren Hälfte des Notenspektrums befinden. Andere Hochschulen sind in diesem Punkt weit transparenter: Nach Ende eines Kurses wird eine anonymisierte Liste mit einer detaillierten  Benotung auf das entsprechende Pendant zum StudyNet hochgeladen. Das ermöglicht einerseits dem Einzelnen, seine eigene Leistung im Verhältnis zu anderen einschätzen zu können – schliesslich konkurrieren wir auch beim Einstieg in den Arbeitsmarkt nicht mit der 6, sondern mit unseren Kommilitonen. Alles ist relativ! Andererseits würde ein solches Verfahren die «Willkür» der Bewertenden im Keim ersticken.

«Die Diskussion um mehr Transparenz führen wir mit jeder Studenten-Generation von Neuem», sagt Vito Roberto. Die Universität wäre durchaus bereit, mit der Studentenschaft über mehr Transparenz bei der Notengebung zu diskutieren. «Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob das  tatsächlich im Sinne der Studenten ist.» Tatsache ist: Bei einem solchen System würde es schwierig, gegenüber dem Arbeitsmarkt glaubwürdig zu erklären, warum plötzlich drei Viertel der Absolventen zu den «sehr guten» Studenten gehören.

Nichtsdestotrotz, ein Schliessen der zahlreichen Schlupflöcher und mehr Transparenz würde schlicht die Leistung mehr belohnen und damit einen vermeintlichen Wert der HSG unterstreichen. Oder ist das Prinzip «Leistung muss sich lohnen» am Ende nicht viel mehr als ein Märchen? Und wenn die Möglichkeit, mit Fleiss und Verstand gute Noten zu erzielen, noch nicht gestorben ist, dann schliessen wir uns bald wieder für  fünf Wochen ein und lernen wie die Wahnsinnigen, während Frau Holle ihre Kissen schüttelt. Auf in den Kampf!


1 Comment

  • Daniel Meier

    Transparenz ist vor allem bei den Lernunterlagen gefordert. Alte Prüfungen werden nicht allgemein zugänglich publiziert. Dies öffnet privaten Trittbrettfahrern Tor und Türen für den Verkauf privater Lernunterlagen minderer Qualität. Viele Studenten sehen sich gezwungen, diese Prüfungen und Musterlösungen für teures Geld zu kaufen. Trotz der schlechten Qualität der Unterlagen erhält man zumindest einen Einblick in die alten Prüfungen. Wenn man sich gegen einen Kauf entscheidet, ist man grundsätzlich im Nachteil, da man weniger Übungsmaterial hat.
    Um eine minimale Chancengleichheit zu garantieren, und privaten Profiteuren den Riegel zu schieben, sollte man sich ein Beispiel an der juristischen Fakultät der Universität Zürich nehmen. Dort finden sich sämtliche alten Klausuren inkl. Musterlösung und Notenmassstab.

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