Der Duft Afrikas

Industriehalle, Winterthur: Dies ist nicht Schauplatz für die nächste Folge von «Der Bestatter», sondern unser «Tatort» fürs Profs privat. Wir treffen Caspar Hirschi, Ordinarius für Geschichte, um ihn besser kennenzulernen. Auf den folgenden Seiten erfährst du Dinge über seine Zeit in Afrika, unorthodoxe Lebensstile in Cambridge und weshalb er kein Fussballer wurde.

prisma ist auf dem Weg zu Caspar Hirschi nach Winterthur. Bereits im Mail hat er angedeutet, dass auch sein Zuhause von Interesse sein könnte. Er hat nicht zu viel versprochen! Wir sind überwältigt von der Grösse des ehemaligen Industriegebäudes. Darin wurden in der Blütezeit Winterthurs Lokomotiven produziert. Heute ist die Industriehalle Dach für zahlreiche moderne Wohnungen wie die seinige – farbenfroh, vollgepackt mit Kinderspielsachen und Zeichnungen an den Wänden kommt die Wohnung der jungen Familie daher.

Winterthur – nicht Zürich, aber zum Wohlfühlen

Hirschi erzählt, er habe eigentlich lieber nach Zürich, «in eine richtige Stadt», ziehen wollen, aber seine Frau fand es mit drei kleinen Kindern zu umständlich und deshalb einigten sie sich auf Winterthur. Hirschi wuchs hier auf und war sich nach seinem Weggang sicher: «Ich ziehe nie wieder nach Winterthur.» Heute ist er froh, hat er sich geirrt. Er geniesst die entspannte  Stimmung, das üppige Grün und die Leichtigkeit, mit der sich seine Familie in der Stadt auf dem Fahrrad fortbewegen kann.

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Die Industriehalle war früher Dach für die Produktion von Lokomotiven,
heute für Fahrräder und moderne Wohnungen.

Der Duft Afrikas

Caspar Hirschi ist in Zürich geboren, zog mit seiner Familie aber bereits mit wenigen Monaten nach Dar es Salaam in Tansania. Sein Vater, ein Bauingenieur der ETH, lehrte drei Jahre an der Uni vor Ort. «Wie ich kürzlich erfuhr, baut jetzt die HSG eine Kooperation mit genau dieser Uni auf.» Ich denke mir, wie schade es ist, dass er noch ein Kleinkind war und gar nichts von diesem Abenteuer mitkriegen konnte. Als ob er meine Gedanken lesen könnte, fährt er fort: «Wir gingen später noch zwei Mal nach Tansania zurück, und ich habe sofort gespürt, dass ich hier zu Hause war. Das Zwitschern der Vögel oder der Duft, der in der Luft liegt, bevor der Regen kommt: So etwas gibt es so nur in Afrika.» Neben seinen persönlichen Erinnerungen haben ihn die Geschichten von Afrika-Rückkehrern, mit denen seine Eltern befreundet waren, geprägt. «Es waren meistens Geschichten von kleineren Katastrophen – Touristen, die ihr Zelt zwischen zwei kämpfenden Löwenrudeln aufgebaut hatten, Ethnologen, die von ihren eigenen Studienobjekten mit dem Leben bedroht wurden – aber für mich waren es vor allem Zeugnisse eines intensiven Lebens, das ich in der Schweiz vermisste. Der Wunsch, einmal länger ins Ausland zu gehen, hat mich schon früh begleitet.»

Fussball, Fussball, Fussball

Bevor Hirschi ins Ausland gehen konnte, schloss er das Gymnasium in Winterthur ab. Lange habe er sich mehr für Fussball als für die Schule interessiert. prisma möchte von ihm wissen, weshalb er sich später gegen Fussball und für das Studium entschieden hat. «Die eine Begründung lautet: Ich habe meine intellektuelle Berufung entdeckt. Und die andere lautet: Ich habe gemerkt, dass aus mir kein Alain Sutter wird.» Mit 17 Jahren verliess Hirschi den FC Winterthur, und erst danach merkte er, was ihm beim Fussball gefehlt hatte. «Der FC Winterthur war ein ehrgeiziger Club. Man wollte in den obersten Juniorenligen spielen, hat sich italienische Trainer geholt und diese unter Erfolgsdruck gesetzt. Dann gab es noch die ehrgeizigen Papis, viele davon Ex-Fussballer, die bei Spielen an der Seitenlinie austickten. Die Trainer hätten einem leid tun können, wären sie mit den Spielern anders umgegangen: Es gab Jungs, die wurden eingewechselt und nach zwei Fehlpässen wieder ausgewechselt. Auch ich ging eine Weile mit der Einstellung aufs Feld: Hauptsache, man spielt mir keinen Ball, dann mach ich keinen Fehler.»

Zwischenstopp im Militär und Praktikum bei der NZZ

Im Jahre 1994 machte Hirschi die Matura und entschloss sich für ein Studium in den Geisteswissenschaften. Sein damaliger Deutschlehrer weckte in ihm das Verlangen, Texte interpretieren zu können. «Ich fand es toll, dass man aus Texten Welten erschliessen kann.» Zuerst legte er jedoch noch einen kurzen Stopp im Militär ein. «Das war eine seltsame Erfahrung. Während der Schulzeit musste man lernen, selbständig zu denken und zu handeln, und kaum war man im Militär, musste man es wieder verlernen. Ich hatte damals gerade an meinem kritischen Verstand Gefallen gefunden und der passte denkbar schlecht zur militärischen Kultur.» Allerdings war der Ausstieg nicht so einfach. Sein Vater, der Offizier war, verlieh ihm vorübergehend den Titel eines «Schönwetter-Staatsbürgers» und ein besorgter Nachbar schrieb ihm einen mehrseitigen Brief, in dem er ihn wegen seines militärischen Versagens ins Gebet nahm. Der rasche Abgang hatte aber auch sein Gutes. Nach einem Praktikum im Verlag der NZZ konnte er ein weiteres Praktikum bei Jean Frey absolvieren. Dadurch gewann er interessante Einblicke in das Verlagswesen. «Ich habe die Zeit in sehr guter Erinnerung.»

Von Winterthur nach Fribourg

Den Studienort Fribourg wählte Hirschi, weil er von Winterthur und von zu Hause weg wollte. Zu Beginn fand er den  Universitätsbetrieb weltfremd und wollte aussteigen, bevor es richtig begann. «Das lag aber auch an meiner Fächerwahl. Ich habe mit Philosophie im Hauptfach angefangen. Der Einstieg war hart, nicht nur wegen des Stoffes, sondern auch wegen der Verachtung, mit der einzelne Profs ihre Studenten behandelten.» Nach wenigen Monaten wechselte er zu Geschichte und  deutscher Literatur und fand rasch einen Professor, der ihn förderte. In Fribourg entdeckte er nicht nur seine Leidenschaft für die Wissenschaft, sondern auch seine Liebe. Seine Frau studierte Französisch und Deutsch. Die beiden Flötisten haben sich beim Kopieren von Musiknoten kennengelernt. «Zu Beginn haben wir gemeinsam musiziert, später gemeinsam Wein getrunken, dann gingen wir getrennt ins Ausland und dann, nach Jahren, haben wir zueinander gefunden.»

Zeit in Cambridge

Nach der Rückkehr aus dem Erasmusjahr in Tübingen, dem Lizentiat, der darauffolgenden Dissertation in Fribourg und der  Geburt der ersten Tochter bewarb sich Hirschi für ein Research Fellowship in Cambridge (UK). Diesen Schritt bezeichnet Hirschi als glückliche Fügung. «Cambridge ist ideal für junge Forscher und für junge Familien. Die Colleges sind extrem international, und weil es viele junge Wissenschaftler mit Kindern gibt, findet man rasch neue Freunde.» Aber nicht nur die Kultur, sondern auch die  Organisation der Universität sagten Hirschi zu. «Die Hierarchien sind viel flacher als bei uns. Ich konnte als gut 30-Jähriger  Vorlesungen halten und war in Gremien tätig, die über Unterrichts- und Personalfragen entschieden. Das war für mich eine tolle Erfahrung, denn bei uns wird man als Assistent dem ‹Nachwuchs› zugerechnet und oft entsprechend unmündig behandelt.»

Ménage à trois – der Wallfahrtsort im Garten

Er holt ein Fotoalbum hervor und zeigt uns Bilder vom Haus, das sie während dieser Zeit bewohnten. «Wir lebten im ehemaligen Haus von Joseph Needham, einem berühmten Chinaforscher. Die Einrichtung war gewöhnungsbedürftig, aber die Umgebung grandios!» Joseph Needham wollte beweisen, dass die chinesische Wissenschaft der europäischen lange überlegen gewesen sei, womit er vor allem in China viele Bewunderer gewann. Sein Privatleben war auch originell: «Needham war ein schräger Vogel. Er war drauf und dran, eine grossartige Karriere als Biochemiker zu machen, als er sich in eine chinesische Austauschstudentin  verliebte. Obwohl er glücklich mit seiner Frau, ebenfalls eine brillante Chemikerin, verheiratet war, lebte er fortan mit ihr und seiner chinesischen Muse, die ihn zu einem zweiten Wissenschaftlerleben animierte, im gleichen Haus» sagt Hirschi. Wir können nicht glauben, dass so etwas in Cambridge, unserem Inbegriff von Tradition und Konservatismus, möglich war. Aber Hirschi klärt uns auf: «Cambridge ist schon lange ein Ort für unorthodoxe Lebensentwürfe. Männliche Homosexualität etwa wurde bereits in den 1930er-Jahren so off en ausgelebt, dass sich der berühmte Historiker Eric Hobsbawm als Student diskriminiert fühlte, weil er nicht hübsch und schwul genug sei, um gefördert zu werden.» Lachend erzählt uns Hirschi eine andere Anekdote: «Needham und seine beiden Frauen sind vor dem Haus, in dem wir wohnten, in einem hübschen Blumenbeet begraben. Das Grab ist zu einer Pilgerstätte für chinesische Touristen geworden und wenn es dumm lief, trafen sie beim Grab unsere beiden Töchter beim Blumenpflücken an.» Weniger gefiel Hirschi in England das Gesundheits- und Schulsystem. Vor allem deshalb entschieden sie sich nach drei Jahren für die Rückkehr in die Schweiz. Hirschi trat eine neue Stelle an der ETH an, bevor er zwei Jahre später an die HSG berufen wurde.

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Hier lebte die Familie Hirschi während ihrer Zeit in Cambridge.

Familienmensch und Filmjunkie

Hirschi versteht sich als Familienmensch. Die Familie relativiere seine Arbeit und beim Zusammensein mit seiner Frau und seinen drei Töchtern könne er sich am besten entspannen. Spätabends schaltet er am liebsten mit Filmen, vor allem Serien, ab. «Meine Frau kritisiert mich dafür, dass ich keine Romane mehr lese. Ich bekenne mich schuldig. Zurzeit hat es mir seichte Kost angetan: ‹Game of Thrones› etwa – es ist gut gemacht, appelliert aber eher an die niederen Instinkte.» Für die Zukunft wünscht sich Caspar Hirschi einen guten Ausgleich zwischen Forschung und Familie und wieder mal einen Spa-Ausflug mit seiner Frau.

Wir bedanken uns herzlich für das Gespräch und wünschen Caspar Hirschi für die Zukunft viel Zeit für spannende Projekte, die Familie und Zweisamkeit mit seiner Frau.

 Geburtsdatum- und Ort: 16. April 1975 in Zürich
Hobbys: Fussball, Rennen, Bädelen (in dieser Reihenfolge)
Lieblingsmusik: allerhand Trauriges: Josquin des Prez, Radiohead, Cat Power
Lieblingsfilm: im Moment wohl Caché
Lieblingsbuch: aufs ganze Leben gerechnet: Grzimeks Tierleben
Lieblingsessen: Banane (Deluxe-Version mit schwarzer Schoggi)


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