Der Tisch

Eine geräumige Küche in einem Altbau mit Panoramablick auf den Campus unserer Universität, gedimmtes Licht,
Kerzenschein und mitten in dieser wunderschönen Stimmung: ein grosser, alter, massiver Holztisch. Die Wohnung wird seit Jahren, wahrscheinlich sogar Jahrzenten, als WG genutzt. Generationen von Studenten sind hier im fliegenden Wechsel ein- und ausgezogen. Wer diesen Tisch mitgebracht hat und wann, das lässt sich nicht mehr sagen. Gut möglich, dass er von Anfang an genau an dieser Stelle stand. Man kann sich nicht vorstellen, dass er jemals an einen anderen Platz gehört hat, so wie er dasteht, mitten im Raum, perfekt in den Erker mit den Fenstern passend. Den Angaben eines Vormieters zufolge ist der Tisch sogar viel wert, ein schweizerisches Designobjekt angeblich und natürlich aus Massivholz und handgearbeitet. Sowas kriegt man heute fast nicht mehr.
Man könnte ihn zu Geld machen, ihn durch ein Teil von Ikea ersetzen, von dem Rest des Geldes in den Urlaub fliegen. Aber das kommt nicht in Frage. Der Tisch ist das Herzstück der WG. Und weil er deshalb auch als Treffpunkt, Esstisch, Beerpong-Table und Verhandlungstisch dient, hat er schon viel miterlebt. Feste wurden gefeiert, Wein wurde getrunken, Monopoly wurde ohne Gnade gespielt, Bachelorarbeiten wurden geschrieben. Erste Küsse wurden verstohlen ausgetauscht, erste Trennungen überwunden. Abschiedstränen wurden geweint und neue Freunde wurden gemacht. Mit «Psychose» wurden alle an ihm in den Wahnsinn getrieben. Die Willkür der Studienadministration wurde besiegt, Firmen wurden gegründet, Imperien wurden aufgebaut und Kriege geschlagen. Lebensentscheidungen wurden getroffen. Geheimnisse wurden anvertraut. Und all das nur, soweit die Erinnerung reicht. Seinen vielen Kerben und Flecken nach hat dieser Tisch noch viel mehr ausgehalten. Heisse Töpfe, betrunkene Schnitzkünste, Bier und sicher auch Körperflüssigkeiten.
An diesem Tisch spielt sich das Leben ab, seit vielen Jahren, für Generationen von Studenten. Ich weiss genau: wenn ich mich in 50 Jahren an meine Studienzeit zurückerinnere, dann werde ich an die Nächte bei gedimmtem Licht, Kerzenschein und Rotwein an diesem Tisch denken.


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