Der Weg der leeren Hand

Karate – die Kampfsportart ohne ersten Angriff

Auf den Spuren von Andy Hug betrete ich den in dämmriges Licht getauchten Raum. Schlagartig bleiben meine Augen an den Menschen in den sterilen weissen Anzügen haften. Schnell stelle ich mich artig zu ihnen an das Ende der Reihe. Die Stimme des Sempai, unseres Lehrers, hallt durch den Raum. Wir knien uns hin und schliessen die Augen.

Mokuso

Die Stille umhüllt mich während der Meditation, Mokuso. Die Aussenwelt schiebe ich zur Seite. Die Gedanken verlieren sich und ich geniesse die einkehrende Stille. «Mokuso yame» reisst mich aus der Trance. Das Training beginnt.

Abwehr, Tritt, Schlag und Wendung. Realitätsnahe Trockenübungen. Vier Mal versucht und es funktioniert fehlerfrei. Nummer fünf mit einem einschüchternden Schrei, der Mäuse töten kann. Ein Grinsen sitzt auf meinen Lippen, als ich mich im Spiegel bei den Grundübungen betrachte. Ziemlich gut … für den Anfang. Erste Kampfkombinationen runden das Kihon, die Grundschule, ab.

Kata

Kata – das Herzstück des Karate. Schon im alten Okinawa war die Kunst der leeren Hand weit gefürchtet. Aus Angst des Machtverlusts wurden Karatekas drakonische Strafen auferlegt. Damit waren sie gezwungen, ihre Kunst im Verborgenen auszuüben: Der Geheimbund war geboren. Geheimhaltungsgründe zwangen zur mündlichen Überlieferung der effektiven Techniken und Kampfkombinationen von Meister zu Schüler. Dies geschah in der Form der Kata – einer didaktischen Abfolge von Kampftechniken. Jede Bewegung, jede Technik, jeder Schritt wurde genauestens auf das Verhalten mindestens vier attackierender Gegner ausgerichtet. Anmutig vollführt der Kämpfer Angriff und Verteidigung. Nun bin ich Teil dieser Überlieferung, Teil dieser Tradition, Teil dieses Geheimbundes.

Kumite

Die Kata darf nicht verändert werden, im Kampf jedoch gilt das Gegenteil. Wurde Karate jahrelang im Geheimen ausgeübt, so gewann es insbesondere durch seine Wettkampfform weltweit an Popularität: das Kumite. Auch ich trete in die Fussstapfen von Andy Hug und stelle mich meinem Gegner. Fäuste fliegen durch den Raum, Tritte schnellen an mir vorbei. Ich bewege mich flink, wandle mit dem Gegner, suche nach einer Möglichkeit zum Konter.

Während ich meinem Sieg entgegentrete, schwelge ich in Erinnerung an Idole des Kampfsports. Neben Filmen wie Karate-Kid und dem Action-Darsteller Jean-Claude Van Damme gibt es auch nationale Karatekas, die die Kampfsportart erheblich prägten. Andy Hug gewann nicht nur mehrere Meisterschaften im Kyokushinkai Karate, sondern auch die K-1 Weltmeisterschaften und verteidigte den Titel sechs Mal im Hallenstadion Zürich. Leider starb der in Japan «Taifun» genannte überraschend im Alter von 34 Jahren an Leukämie.

Der Weg der leeren Hand

Das Training nähert sich dem Abschluss und ich stelle mich erneut an das Ende der Reihe der Karatekas. Wieder begebe ich mich in Meditation. Ich erinnere mich an die Lehren von Meister Funakoshi – war er doch der Erste, der nach dem Verbot der Kampfsportart Karate stolz in der Öffentlichkeit präsentierte und die heutige Form des Karate entscheidend prägte. Karate-Do – japanisch der Weg der leeren Hand – ist heute nicht nur eine Wettkampfsportart: Karate ist Selbstverteidigung, Kampfsportart und Lebensphilosophie zugleich. Oder in den Worten der Japan Karate Association: «Das oberste Ziel in der Kunst des Karate ist weder Sieg noch Niederlage, sondern liegt in der Vervollkommnung des Charakters des Ausübenden.»

«Mokuso yame» – ich öffne meine Augen.


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