Die Krise wird salonfähig

Finanzkrise, Schuldenkrise, Demokratiekrise: Krisen werden zum Dauerbrenner der Gesellschaft. Während die Elite an der Macht mit neuen Regulierungen Gegensteuer zu geben versucht, verändert sich der Begriff der Krise. Ein Essay.

Die Finanzkrise 2008/09 liegt rund sieben Jahre zurück und derzeit scheinen die Vorzüge des Liberalismus wieder verlockend. Die Wachstumsraten des realen BIP in der westlichen Welt erholten sich im Vergleich zu den Krisenjahren. Die wiedergewonnene Attraktivität des Liberalismus ruft Vertreter wie Francois Fillon, Frauke Petri und Theresa May auf das Tapet. In den USA denkt die Regierung über eine Deregulierung des Bankensektors nach. Doch dieser Liberalismus ist ein anderer, als der vor der Finanzkrise; einer der versucht, die klassische Trennung zwischen ökonomischer Liberalisierung und politischem Protektionismus zu überwinden und damit deutlich von den Erfahrungen von 2008/9 bestimmt ist. Tatsächlich waren diese viel tiefgreifender, als es den Anschein hat. Sie sind es auch, die die westlichen Demokratien und das Selbstverständnis ihrer Bürger bis heute prägen.

«I don’t think we did anything wrong»

Geringe Bankenregulierung, steigende Immobilienpreise und hohe Wachstumsraten zeichneten das Amerika vor der Krise aus. Eine Zeit, in der «Krise» schon längst den Wortschatz der Ökonomen verlassen hatte und die Wirtschaftspolitik nur eins kannte: deregulieren. Mit dem Platzen der Immobilienblase wurden die Rufe nach stärkeren Regularien, staatlichen Finanzspritzen und Schuldigen laut, und wenig später sollte die europäische Schuldenkrise die Lage der Menschen in den betroffenen Ländern weiter verschlimmern. Schnell war in den Medien von gierigen Bankern, Managern und dem Versagen der Ökonomen die Rade, die es soweit haben kommen lassen, weil sie alle kein soziales Verantwortungsgefühl besässen und sich auf Kosten «der Anderen» bereichern. Aussagen wie die von Michael Swenson: «I don’t think we did anything wrong», haben sicherlich zu diesem Bild beigetragen.
Ob diese These der Komplexität der Finanzkrise gerecht wird, ist unklar. Dennoch wurde sie zum Anlass genommen, latente gesamtgesellschaftliche Missstände und Brüche in den Raum des öffentlichen Diskurses zu verlagern. Der Begriff der Krise erlebte eine Transformation, die ihn nicht mehr nur in den Mittelpunkt ökonomischer Interessen stellte, sondern sich auf weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausweitete.
Krisen sind daher, als Formen der Selbstbeschreibung einer Gesellschaft, auch Ausdruck ihrer Reformbedürftigkeit und ihrer Wandlungsfähigkeit. Während der Finanzkrise und danach zeigte sich diese an den öffentlichen und nicht immer gewaltlosen Protesten und den Diskursen in Medien und Politik. Damit einher ging eine Suche nach Orientierung. Eine allgemeine Kritik am System, welche sich mit der Zeit nicht mehr nur auf die rein wirtschaftlichen Aspekte beschränkte. Diese wurden zum Anlass genommen, die Lebenswirklichkeit zu hinterfragen und neu zu deuten. Die New York Times titelt 2014 «Growth vs. What Really Makes Life Good» und die Welt 2017 «Der Kapitalismus hat seine Anziehungskraft verloren». Folgt man dem Soziologen Wolfgang Streeck, dann konnte der Kapitalismus die «Mandevillesche Verheissung der Verwandlung privater Laster in öffentliche Güter» nicht erfüllen, und seine Krise wurde zu einer Krise der Demokratie. In diesem Sinn kann die Postkrisenerfahrung als Suche nach alternativen Lebensstandards, Ausdrucksformen und Identität gedeutet werden.

Eliten und Krisen

Die Finanzkrise zwang Repräsentanten des demokratischen Systems zu sofortigen Massnahmen. Dies endete in der überhastet beschlossenen Rettung des Systems und führte zu einem Vertrauensverlust seitens der Gesellschaft. Paul Krugman schreibt in seinem Blog in der New York Times: «The fact is that what we’re experiencing right now is a top-down disaster. The policies that got us into this mess weren’t responses to public demand.» Es waren Entscheidungen einer kleinen Elite, die zunehmend als korrupt und undemokratisch wahrgenommen wurde. Sie hat nicht zuletzt durch Steuerskandale, Lobbyismus und Abhöraffären selbst dazu beigetragen, das Bild einer undemokratischen Elite, der es nur um sich selbst geht, gesellschaftsfähig zu machen.
In Europa manifestierte sich dies vor allem in der Staatsschuldenkrise. Nicht nur, dass sich die vermeintliche Solidargesellschaft «EU» als äusserst fragil zeigte, wenn es um die Mitfinanzierung anderer Mitglieder ging, sie bot zunehmend eine Zielscheibe, auf die sich die eigene Misere projizieren liess. Boris Johnson diskreditiert die Idee eines europäischen Staates besonders drastisch: «Napoleon, Hitler, various people tried this out, and it ends tragically.» Diese Sprache, die vor allem nicht mit Totalitarismen und Nazivergleichen spart, findet sich in fast allen europäischen Ländern wieder, sei es als Kritik an der EU, ihren Mitgliedern oder dem Establishment. Sie ist Ausdruck innerer Verärgerung und Machtlosigkeit und des Erstarken einer neuen Rechten in ganz Europa, die zuletzt die Flüchtlingskrise medienwirksam nutzte, um das restlichen Vertrauen in die EU in der Öffentlichkeit auszuhöhlen. Damit einher ging eine Verschärfung des Extremismus auf beiden Seiten, links wie rechts. 2015 stieg die Zahl politisch motivierter Kriminalität in Deutschland um 19 Prozent. In Grossbritannien stiegt die Zahl der Hate Crimes nach dem Brexit um 41 Prozent im Vergleich zum Vormonat.

Übergang oder das Ende der Geschichte?

Sprechen wir also nicht nur von einer Krise des Kapitalismus, sondern auch von einer der freiheitlichen, demokratischen Grundordnung? Der deutsche Historiker Andreas Wirsching sieht in dem Aufkommen des Extremismus die westlichen Demokratien als akut bedroht. Er verweist vor allem auf die Identitätskrise des Westens, die zwischen den Polen Toleranz und Abgrenzung, historischer Aufarbeitung und fehlender Verantwortung, sowie freier und protektionistischer Marktwirtschaft liegt. Unsicherheit und Veränderung des westlichen Selbstverständnisses, sowie ökonomisch begründete soziale Statusunsicherheit sind eine gefährliche Mischung und darüber hinaus Ausdruck dafür, wie kompliziert das für jede Demokratie bedeutsame Verhältnis von Staat, Nation und Individuum geworden ist.
Die Krise wird, entgegen ihrer historischen Wahrnehmung als Übergangsperiode, zunehmend zum kulturellen Ordnungsschema und vertrauten Begleiter. Es scheint, als habe man sich an die Gräben in der Gesellschaft gewöhnt, anstatt sie überwinden zu wollen. Als wären die Karten schon verteilt, obgleich das Spiel noch nicht begonnen hat. Und vielleicht liegt genau hier das grosse Dilemma der westlichen Gesellschaft. Sie hält an dem Alten fest, obwohl sie seiner längst überdrüssig geworden ist, da sie noch keine beste Antwort auf die Zukunft hat.


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