Ein Leben zwischen Internationalität und Heimatverbundenheit

Der Dekan der School of Management über gescheiterte Masterpläne, wofür sich das Pendeln lohnt und was Deutschland von der Schweiz lernen kann.

Bevor wir Peter Leibfried für ein Interview treffen, weist er darauf hin, dass seine Familie und damit sein Zuhause in Stuttgart sei. In St.Gallen wohne er in einer kleinen Wohnung und pendle am Wochenende nach Deutschland. Das moderne Appartement befindet sich im obersten Stock eines Mehrfamilienhauses direkt neben dem Institut für Accounting, Controlling und Auditing und besticht mit einer Dachterrasse mit Panoramablick über die Altstadt St.Gallens. Trotzdem bezeichnet der Institutsleiter sie scherzhaft als seine Studentenbude.ProfsPrivat_online_bilder-1-2

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Schwäbische Naturverbundenheit und Heimatliebe

Aufgewachsen ist Peter Leibfried in Sindelfingen in der Nähe von Stuttgart. Er wuchs dort in einem, wie er sagt, «typischen Siebzigerjahre-Reihenhaus mit grossem Garten» auf. In diesem verbrachte er viel Zeit und half seinem Vater gerne bei der Gartenarbeit. Diese Leidenschaft blieb. Heute besitzt der Professor ein Haus mit grosser Obstwiese in Stuttgart. Seine Naturverbundenheit und Liebe zur Gartenarbeit gibt er heute wiederum an seinen Sohn weiter. Auch im Urlaub spielt das Draussensein eine grosse Rolle. Die Ferien verbringt die Familie auf der eigenen Finca. Der Professor schätzt «die Ruhe, die Abgeschiedenheit, die Natur, die Wiese, den Acker und das Bäume-Pflanzen» auf Mallorca.

Von Hohenheim über Ohio zurück nach Stuttgart

Sein Studium begann Leibfried in Hohenheim und wohnte in dieser Zeit bei seinen Eltern. Er habe zunächst zwischen Wirtschaft und Jura geschwankt, sich dann aber für Ersteres entschieden, weil er entdeckte, dass «überall Wirtschaft drinsteckt». Neben dem Studium engagierte er sich im Studentenorchester und bei AIESEC. Hauptsächlich sei er aber ein karriereorientierter Student gewesen, habe viel gelernt und jede Möglichkeit für Praktika bei verschiedenen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften genutzt. Dabei wurde er auch mit der zunehmenden Internationalisierung konfrontiert. «Ich habe mich gefragt, was das für mich und mein Fachgebiet bedeutet», erzählt Leibfried. So stiess er auf sein jetziges Lehr- und Forschungsgebiet, die internationale Rechnungslegung, die damals noch ganz neu war und nur vereinzelt angewendet wurde. Er ergriff die Möglichkeit, sein Wissen in diesem Bereich zu vertiefen und seinem Fernweh nachzugeben, und bewarb sich für ein Stipendium für ein einjähriges Studium in den USA bei der namhaften Fullbright-Stiftung. Dieses verbrachte er dann an der Graduate School of Business der Kent State University in Ohio und erlangte dort einen MBA-Abschluss.

Der Schritt von zu Hause weg über den Ozean fiel ihm leicht: «Ich wollte einfach nur ins Ausland und mich dieser Erfahrung aussetzen. Vielleicht, weil es vorher kein grosses Thema war.» Internationales Reisen war laut Leibfried sehr selten in seiner Kindheit. Das erste Mal sei er mit 18 in einem Flugzeug gesessen, Spanien habe er erstmals als Student gesehen. So entwickelte er den Wunsch, ins Ausland zu gehen. Aus Ohio brachte Leibfried viel Wissen über internationale Rechnungslegung mit. Das war damals, wie er beschreibt, in Deutschland noch recht exotisch. Mit dieser speziellen Fachkompetenz gelang ihm der Berufseinstieg bei der Mittelstandsberatung Arthur Andersen – wieder daheim in Stuttgart. Drei Jahre arbeitete er dort, bis ihm seine Lernkurve zu abgeflacht erschien. Eine Promotion habe er dann als «legitimes Instrument zur Neuorientierung» empfunden. Der Fokus lag nach wie vor auf der internationalen Rechnungslegung, weshalb er die HSG als Universität für seine Promotion hauptsächlich aussuchte, um diesen beizubehalten. Zeitgleich gründete er ausserdem mit ehemaligen Kommilitonen ein Unternehmen in Stuttgart, in dem er auch nach seiner Promotion noch einige Jahre arbeitete.

Überraschend Professor

2005 erhielt Leibfried, abermals zurück in Stuttgart, einen Anruf aus St.Gallen: Sein ehemaliger Doktorvater bat ihn, als Professor für Rechnungswesen an die HSG zurückzukehren. Die Entscheidung sei ihm damals überhaupt nicht schwergefallen. Als Dekan haben sich seine Aufgaben bis heute stark verändert, neue Aufgabenfelder sind hinzugekommen. Ungefähr einen Tag pro Woche verbringe er jetzt zusätzlich mit «Dean-Sachen», also organisatorischen und personellen Angelegenheiten. Die Umgebung an der HSG, die Kombination aus smarten, motivierten Studenten und der bereichernden Arbeit gefallen ihm extrem gut. Er geniesst die grosse Freiheit und die hohe Sichtbarkeit, die unsere Universität bietet. Ein Angebot von einer anderen Universität würde er nicht annehmen, lacht er: «Ich habe zu meiner Frau gesagt: Das hier ist der erste Job, den ich machen könnte, bis ich in Rente gehe.»

Haus, Obstwiese, Familie und soziales Umfeld wollte der Professor dennoch nicht aufgeben. So entstand die heutige Situation mit Zweizimmerwohnung und dem wöchentlichen Pendeln. Das Schweifen in die Ferne und dann wiederum immer die Rückkehr in die Heimat ziehen sich durch Leibfrieds Lebenslauf. Immer wieder zurückzukehren sei aber nie eine bewusste Entscheidung gewesen: «Ich bin den Aufgaben hinterhergelaufen.» Er habe es aufgegeben, zu versuchen, seinen Lebensmittelpunkt immer mitzuverschieben, und pflege lieber bestehende Beziehungen.

Auch damals in den USA sei ihm bewusst gewesen, dass es nicht einfach sei, in der Fremde Fuss zu fassen. Die Entscheidung, aus Ohio wieder nach Stuttgart zurückzukehren, würde er heute wieder treffen. Dennoch konnte er aus seiner Multilokalität viel lernen. Die erste Zeit in den USA sei ihm damals zunächst schwergefallen – nicht wegen des Abschiedsschmerzes, sondern weil er sich in der Fremde «ständig sehr dumm» vorgekommen sei. Eine gute Erfahrung sei das dennoch, so der Professor, denn er wisse jetzt, dass man bereit sein müsse, sich dumm anzustellen, wenn man eine neue Aufgabe in Angriff nimmt.

Als Deutscher in der Schweiz fühlt sich Leibfried sehr wohl. «Die Schweizer sind den Deutschen voraus, viel besser in der Lage, Ausländer aufzunehmen und viel internationaler ausgerichtet», findet er. In Stuttgart beschwerten sich manche über Ausländeranteile von 9 Prozent, die Schweiz dagegen komme mit 23 Prozent zurecht. Im schwäbischen Hinterland erlebe er manchmal Situationen, die er sich so in der Schweiz nicht vorstellen könnte. Einmal, als der Dekan und seine Frau mit ihrem aus Kolumbien stammenden Adoptivsohn unterwegs waren, kurbelte ein Autofahrer im Vorbeifahren das Fenster runter und fragte: «Ist das eurer?»

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Nehmen, was kommt

«Ich bin heute mit der Gesamtsituation unglaublich zufrieden», erzählt der Professor. In seinem Leben habe sich vieles einfach ergeben – sein Masterplan, nämlich nach dem Studium Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und später Partner in einer kleinen Prüfungsgesellschaft zu werden, habe sich bereits ein halbes Jahr nach dem Berufseinstieg in Luft aufgelöst. Er habe sich stets an den Kunden, den Aufgaben und den Gelegenheiten orientiert. Sein Ziel sei es auch nie gewesen, Professor zu werden. Rückblickend sei es genau das Richtige gewesen, das Leben so zu nehmen, wie es kommt. Das bedeutet für Leibfried aber nicht, sich einfach treiben zu lassen. «Die wichtigste Tugend ist, zu nehmen, was kommt, und dann das Beste zu geben.» Doch solche Gelegenheiten müsse man mit Engagement und Aufmerksamkeit suchen.

Fotos Luana Rossi


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