Ein #Sessel für @resstrehle

Für eine Woche hat Res Strehle, der Chefredakteur des Tages-Anzeigers, mit Miriam Meckel den Sessel getauscht. prisma hat sich mit ihm über das Gastspiel als HSG-Professor und über die Herausforderungen auf seinem eigentlichen Sessel im digitalen Zeitalter unterhalten.

Herr Strehle, wie fühlen Sie sich zurück an Ihrer alma mater?

Es war eine schöne Erfahrung. Ich konnte teilweise sogar anknüpfen an Diskussionen, die wir bereits zu meiner Studienzeit an der HSG geführt hatten. Es fiel mir ausserdem auf, dass es mehr Bars gibt in St. Gallen. Es ist bunter geworden.

Wie hat sich die Universität seit den 70ern verändert?

Unter den Studenten empfinde ich vieles ähnlich. Bei uns war die Konfrontation härter zwischen den eher konservativen Studierenden in den Verbindungen, bei denen Militär und Karriere eine grössere Rolle spielten und auf der anderen Seite jenen, die nach etwas anderem gesucht haben: Drittwelt-, Frauen-, Film- und Theatergruppen oder linke politische Gruppierungen. Die Debatten wurden ziemlich unerbittlich geführt. Jetzt läuft die Diskussion weniger ideologisch, dafür habe ich den Eindruck, dass man teilweise ein bisschen aneinander vorbeidiskutiert.

Wie hat sich diese Konfrontation damals geäussert?

In bester Erinnerung ist mir ein Propagandafilm über den Vietnamkrieg. Beide «Lager» sahen ihn sich in der Aula an und bei jedem Bombenabwurf wurde von der jeweiligen Seite geklatscht oder gepfiffen. Es war schwierig, neutral zu sein – und so wurde ich ein klarer Gegner des Krieges.

Sie haben Ihrem Unmut dann auch Ausdruck verliehen und mehrmals Artikel im prisma veröffentlicht, darunter Beiträge wie «Manager aller Länder, vereinigt euch» oder «Vom homo sapiens zum homo konsumus».

Wir waren nur drei oder vier Studenten und hatten viele Freiheiten, unsere Gedanken und Gedichte zu veröffentlichen. Einmal, in einer schwärmerischen Phase, setzte ich mich in einem Gedicht kritisch mit der Mainstream-Haltung St. Gallens auseinander und erntete darauf viel Kritik. Mittlerweile bin ich nicht unglücklich, dass keine weiteren Gedichte von mir erschienen sind.

Wenn Sie sich noch einmal für ein Studium entscheiden müssten, kämen Sie dann wieder an die HSG?

Ja, ich bin froh, dass ich die Grundregeln des ökonomischen Funktionierens hier erlernt habe. Ein Wert muss zuerst erarbeitet werden, bevor er verteilt werden kann. Gleichzeitig hat es an einer Uni abseits vom grossen Strom des ökonomistischen Denkens, auch Raum für Querdenker – die gibt es, wie ich in meiner Sesseltausch-Woche erlebt habe, offenbar weiterhin. Sich zum Beispiel mit Morozovs Thesen zum Internet auseinanderzusetzen, ist extrem bereichernd.

Im Rahmen des Sesseltausches mit Miriam Meckel haben Sie während einer Woche die Rolle des Theoretikers und Lehrers übernommen. Mit welchen Erwartungen sind Sie an diese Woche herangegangen?

Einerseits hat es mich interessiert, wo die Medienwissenschaft heute steht und was wir Praktiker in den Redaktionen davon lernen können. Im Bereich Social Media, der Interaktion mit den Zeitungslesern und -nutzern, bewegt sich extrem viel und wir sind deshalb seit einigen Monaten daran, den Tagi neu aufzustellen – hier habe ich am meisten lernen können. Die zweite Hoffnung war, dass Miriam Meckel auf meinem Sessel eigene Akzente in einer Tagi-Ausgabe setzen kann …

… ohne dass am Abend zuvor die EDV der Redaktion zusammenbricht, wie es bereits an Miriam Meckels zweitem Arbeitstag in der Redaktion passiert ist.

Das ist mir in meinen knapp fünf Jahren als Chefredaktor nie passiert und ich glaube, auch keiner meiner Vorgänger hat das in 120 Jahren in so einem dramatischen Ausmass erlebt.

Wie ging es Ihnen in dieser Situation? Konnten Sie noch schlafen?

Ich war wie auf Nadeln und ständig in Verbindung mit der Redaktion. Wir hatten die Hoffnung, dass die technischen Probleme des Systems rasch behoben würden – wussten aber gleichzeitig, dass es immer schwieriger wird, die Abonnenten am nächsten Morgen noch zu erreichen. Um Mitternacht bin ich dann doch kurz eingenickt, beim nächsten SMS aber wieder aufgewacht und eine Stunde später wussten wir dann, dass eine Notausgabe erscheinen kann.

Was war das Highlight Ihrer Sesseltausch-Woche?

Das waren einige sehr interessante Auseinandersetzungen auf hohem Niveau: Beispielsweise habe ich in einem Seminar verschiedene Zukunftsthesen von Aldous Huxley, George Orwell und Miriam Meckel zu verdichten versucht. Es entstand eine äusserst spannende Diskussion über das digitale Ich im Internet, den Verlust von Spontanität und Individualität, Überwachung und Fortschritt. Zudem haben mich zwei Studentinnen, die mit Herzblut Journalistinnen werden wollen, beeindruckt. Das ist schön; ich kann es übrigens nur empfehlen, es ist ein toller Beruf!

Sie geben den Lehrsessel also wieder frei und kehren zurück in den Newsroom?

Ja. Es gibt ja noch ein paar offene Aufgaben zu lösen.

Eine davon ist die Konvergenz von Print- und Onlinejournalismus, für die Sie sich auch Inputs aus Ihrem Sesseltausch erhofft haben. Warum braucht es dieses Verknüpfen der beiden Kanäle überhaupt?

Weil sich die Gewohnheiten der (zukünftigen) Leser – und neu eben auch Nutzer – ändern. Wir müssen unsere Dossierkompetenz auch digital und mobil anbieten und mit den neuen, interaktiven Möglichkeiten ergänzen. Eine 120-jährige, ehrwürdige Redaktion muss sich erneuern; das ist eine grosse Herausforderung. Den Integrationsweg dieser beiden Kulturen sind wir jetzt zu 80 Prozent gegangen, die letzten 20 sind noch offen.

Diese beinhalten auch, dass der Nutzer in Zukunft für die Inhalte zahlen müssen wird: Sie führen im 1. Quartal 2014 eine Paywall ein …

… eine Zahlungseinladung … (schmunzelt)

Werden Sie mit diesem System Ihre Kunden behalten und profitabel sein können?

Eine harte Bezahlschranke würde uns das Genick brechen. Die besten Artikel dürfen wir nicht hinter einem Schloss verstecken. Deshalb soll es eine Anzahl von vielleicht 30 Artikeln pro Monat geben, die jedem frei zugänglich sind. Die Paywall soll beweglich und porös sein, aber einzig die zahlenden Nutzer sollen das volle, multimedial angereicherte Angebot erhalten – die Darstellung komplexer Prozesse zur Horizonterweiterung ist unsere Daseinsberechtigung. Wir haben keine riesigen Umsätze budgetiert, aber eine grosse Redaktion mit Experten auf allen Kanälen lässt sich nicht ohne Bezahlung auf allen Kanälen finanzieren.

Die Konzentration könnte so weit gehen, dass eines der beiden Flaggschiffe der Zeitungslandschaft über die Klippe springen müssen wird?

Ein Medium wie der Tagi wird immer überleben, wir müssen uns aber womöglich weitere Kooperationen überlegen, auch grenzüberschreitend. Das heisst, die Medienvielfalt ist doch bedroht? Die Gefahr der Meinungskonzentration besteht absolut nicht, die Vielfalt besteht ja bereits innerhalb der Redaktion selbst. Zudem ist das, was man früher oft als «Vielfalt» bezeichnete, eine Pseudo- Vielfalt. Es gab zwar viele Titel, aber sie hatten alle zu wenige Mittel, sodass sich alle auf die gleichen Agenturen und Korrespondenten verlassen mussten. Heute haben wir durch unsere Kooperationen ein eigenes Korrespondentennetzwerk, das so dotiert ist, dass es uns breite eigene Recherchen und Analysen erlaubt.

Ihr Fazit dieser Woche zusammengefasst in einer Twitter-Nachricht?

In 6 Worten: Es kam noch besser als erhofft. Und in einigen mehr: Es gibt mehr Impulse der Forschung an die Redaktionen als gedacht, die Zusammenarbeit von Print- und Online-Medien eröffnet neue Horizonte.

Die Berichterstattung über den Sesseltausch des Tages-Anzeigers findet ihr hier.


Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*

*

*