Eine Reise ins Ungewisse – für uns alle

Wer als Asylsuchender in die Schweiz kommt, hat nicht nur Landesgrenzen zu überqueren. Vielmehr braucht es soziale Integration, um wirklich anzukommen. Eine Reportage aus dem Solidaritätshaus St. Gallen.

Es ist Freitagabend. Der Raum in dem sonst der Mittagstisch stattfindet, ist mit Freunden des Hauses und Gästen bis auf den letzten Platz gefüllt. Es ist Belluna-Abend. Die Atmosphäre ist sehr angenehm, was auch am wunderbaren Essen liegt, das die drei Afghanen Seyed, Mohammad und Hossein zubereitet haben. Man drückt mir einen Teller in die Hand und wir speisen gemeinsam in der Küche. Als eine Frau hereinkommt und etwas helfen möchte, sagt Seyed, der heute Chefkoch ist: «Bitte lassen Sie das!  Sie sind heute Gast.» Dann stockt er. Und meint «Gästin». Er überlegt nochmal und ist selber irritiert. Das klingt für ihn komisch. Tut es tatsächlich.
Der Moment wirkt. Wer hat den Ausdruck Gästin schon mal verwendet? Doch das, was dieser Szene ihre Schönheit verleiht, ist nicht die sprachliche Sorgfalt, sondern die Art wie Seyed es sagt. «Ihre Eleganz» ist seine Antwort auf die Frage, was er an der Schweiz am meisten schätzt. «Ich wollte schon immer in die Schweiz.» Ab und zu gehe er rüber zu seiner Nachbarin, um mit ihr ein paar Partien Schach zu spielen. Typisch «Flüchtling» möchte man sagen.

Das Fremde entdecken

Ronald Reng hat 2004 in seinen Roman «Fremdgänger» über das Zusammentreffen zweier Welten geschrieben. Über eine Liaison zwischen Ost und West. Der Roman dreht sich um einen Deutschen, der sich in eine Ukrainerin verliebt. Sie spielt in Kiew in der U-Bahn Klarinette, er arbeitet als Investmentbanker in London. Damals – also vor zehn Jahren – hätte man der Aussage ohne zu zögern zugestimmt, dass die Voraussetzungen für eine Liebesgeschichte nicht unterschiedlicher hätten sein können. Heute spüren wir, dass unsere Welt noch viel komplexer ist.
Um das Fremde zu entdecken, gibt es verschiedene Ansätze: Der eine steigt ins Flugzeug, um tausende Kilometer in die Ferne zu fliegen. Der andere zieht sich seine Schuhe an, streift sich eine Jacke über und geht zu Fuss zum Solidaritätshaus in St. Gallen.

Reduktion auf die Vergangenheit

Wenn ich mit Seyed und Mohammed spreche, weiss ich, dass mir «Geflüchtete» gegenübersitzen. Die Bezeichnung «Flüchtling» würde sie auf einen einzigen Teil ihrer Biographie reduzieren, der vergangen ist. Viel mehr sind sie aktuell Fremdgänger und Grenzgänger. Fremdgänger, weil sie sich in einer für sie anfangs sich fremd anfühlenden Welt bewegen und auch für uns erstmal Fremde sind. Grenzgänger werden sie hingegen immer bleiben: Weil sie uns mit unseren Grenzen in unseren Köpfen und derer unserer Bürokratie konfrontieren. Dabei müssen sich auch an ihre eigenen Grenzen gehen.

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Eine von wenigen «offenen Grenzen» für das Kochteam.

Alltagsleere

Mohammad ist seit 13 Monaten hier. Er hat immer noch keine Arbeitserlaubnis. Er spricht neben seiner Muttersprache auch Griechisch, Englisch und lernt zweimal pro Woche Deutsch. 90 Minuten im Solihaus. Sonst darf er im Prinzip nichts machen, ausser Sport. Zweimal pro Woche 90 Minuten. Das ist so viel, wie wenn der F.C. Bayern Bundesliga und Champions League spielt. Wenn man sich das nur vorstellt, dass das der ganze «Inhalt» einer ganzen Woche sein soll, beginnt man schon zu verzweifeln.
Der Deutschkurs in der Migros Klubschule würde über 1200 Franken kosten, sagt er. Auf deren Homepage steht: Bildung für alle. Gerne würde er mehr lernen, aber das ist finanziell nicht möglich. Gerne würde er arbeiten, aber dem steht unsere Bürokratie im Weg. Daher ist die Bezeichnung Grenzgänger keine schlechte Wahl, weil ihn das auch an seine eigenen Grenzen treibt. Trotzdem ist er ganz ruhig. Er bedankt sich für alles, was man hier für ihn tut. Das klingt paradox, er meint das aber tatsächlich so. Der Wille zur Integration ist bei den Leuten im Solihaus vorhanden. In Deutschland gibt es Migranten in der dritten Generation, die schlechter Deutsch sprechen, als Mohammad nach 13 Monaten in der Schweiz und 90 Minuten Unterricht pro Woche. Das kann kein Zustand sein. Ist es aber.
Viele sagen, dass diese Grenzgänger eine andere Einstellung gegenüber Frauen hätten. Und meinen damit eine weniger fortschrittliche. Diese passe nicht zu unserer westlichen Gesellschaft. Schon allein aufgrund ihrer Religion müsse das so sein: Der Islam sei mit dem Christentum nicht kompatibel. Das ist pauschalisierend, fühlt sich aber für viele tendenziell richtig an – bis Trump den Umkleideraum (der Diskussion) betritt.

Horrortrip nach Griechenland

Um die Erwartungen mancher Leser nicht zu enttäuschen, sei an dieser Stelle erwähnt, dass es tatsächlich Menschen in diesem Raum gab, die eine waghalsige Flucht hinter sich haben. Seyed ist in einem Boot, das für vier Personen konzipiert war, mit 35 anderen Menschen nach Griechenland übergesetzt. Eine davon war seine Ehefrau. Warum war? Weil dieses Ereignis in der Vergangenheit liegt. Nicht aber die Liebe zu seiner Frau, die an diesem Abend auch hier ist. Sie haben es beide geschafft. Diese Fahrten mögen lebensmüde erscheinen. Das sind sie auch: Müde eines unwürdigen Leben. Details daraus würden die Sensationslust befriedigen, aber das ist nicht das Ziel dieses Textes. Positives Denken macht ohnehin mehr Spass. Daher trifft die Bezeichnung «lebenshungrig» viel besser auf sie zu. Hungrig auf ein Leben in Sicherheit, in dem freies Denken und elegantes Handeln zur hiesigen Gesellschaft passen.

Durchlässigkeit versus Verschlossenheit

Flucht scheint durchaus ein geeignetes Mittel zu sein, um diesen Umständen zu entfliehen. Europäische Grenzen zu überwinden, war einige Monate über bestimmte Routen zwar sehr gefährlich, aber durchaus machbar. Grenzen in den Köpfen zu überwinden, ist hingegen viel komplizierter. Und es ist riskant, weil es erstmal keinen Spass macht, sich auf das Fremde, Ungewisse einzulassen. Es braucht Vertrauen, da spielen Ängste eine Rolle, man könnte enttäuscht werden. Daher ist es oft unmöglich.
Die Flucht gehört zur Vergangenheit. Und obwohl man schon da ist, oder gerade weil, möchte man jetzt auch richtig ankommen. Ankommen in der Schweizer Gesellschaft und ein Teil von ihr sein. Entwurzelt und erschöpft bitten sie um Asyl. Hier beginnt vielleicht der schwierigste Teil ihrer Reise: die Integration in die Gesellschaft. Nicht mehr lebensgefährlich, aber lebensentscheidend. Und auch für uns Europäer beginnt hier ein Trip ins Ungewisse: Ist der Islam jetzt mit dem Christentum kompatibel oder ist er das nicht? Müssen Frauen wieder ihre Erwartungen an die Gleichstellung zurückschrauben, damit diese neue Gesellschaftsform funktionieren kann?
Keiner hat gesagt, dass es leicht wird, doch Merkel meinte, wir schaffen das. Wer «wir» sind, was sie mit «schaffen» meinte und was sich hinter «das» verbirgt, weiss bis heute kein Mensch.

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Hossein prüft, ob im Esszimmer alles seine Ordnung hat.

Aufnahmefähigkeit

Noch sprechen wir von Integration. Die Diskussion ob 1,5 Millionen Asylsuchende in einer Population von über einer halben Milliarde Europäern Platz haben, brauchen wir geographisch gar nicht zu führen. Sozial jedoch jedenfalls. Und da wird es spannend. Klappt es, dass sich eine Art des gemeinsamen Miteinanders herausbildet, die funktioniert?
Wichtig wäre es. Weil diese «Flüchtlingskrise» im Prinzip gerade mal eine Trockenübung für den Klimawandel ist. Dieses Merkel’sche Experiment kann uns zeigen, wie viele Asylsuchende eine Gesellschaft verträgt, um sich in sich selbst nicht fremd zu fühlen. Und eben auch wie und ob Intergration mit diversen Gruppen klappt. Man denke nur an die vielen Erdogan-Wähler in Deutschland.
Sollten wir feststellen, dass Integration nur in Inseln der Menschlichkeit wie im Solihaus funktionieren kann und auch dort schon schwierig ist, fällt es schwer relevante Argumente gegen militärisch grenzsichernde Massnahmen an den EU-Aussengrenzen zu finden.

Globale Verantwortung

Die Gebiete aus denen die Grenzgänger kommen, sind unsicher. Auch weil Politiker in der westlichen Welt die falschen Entscheidungen treffen und diese durch wenig bis gar nicht ethisches Wirtschaften verschärft werden. Aber gäbe es dort Sicherheit, könnte man dort auch in Frieden leben. Wenn es jedoch vielerorts zu heiss wird, sind diese Gebiete nicht mehr bewohnbar. Wenn die alle zu uns wollen, sprechen wir nicht mehr von Integration, sondern von einer Verschmelzung der Gesellschaften. Das ist dann der Trip im XXL-Format: Die Völkerwanderung. Die Eingliederung in Orten wie dem Solihaus kann klappen, auch aufgrund und dank der vielen freiwilligen Helfer. Doch auch deren Kapazitäten haben ihre Grenzen. Nach oft lebensgefährlichen Reisen über Wasser und Land sind Mohammad, Seyed und Hossein  in der Schweiz angekommen – zumindest physisch. Aber nur wenn auch die gesellschaftlichen Grenzen überwunden sind, ist ihre Reise zu Ende. Dafür ist Integration unabdingbar.


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