“Escobar: Paradise Lost” – Nichts für wahre Gangster

«Escobar: Paradise Lost» – man vermutet eine typische Gangsterchronik, wenn man diesen Titel hört. Einen Film, während dessen Verlauf dem Zuschauer der Gangster selbst aufgrund seiner harten Kindheit und seinem Familiensinn immer sympathischer wird. Einen Film, der romantisiert und verklärt. Doch gleich zu Beginn erwartet einen die erste Überraschung: Der Protagonist dieses Films ist nicht Escobar selbst, sondern der junge Kanadier Nick Brady. Dieser kommt mit seinem Bruder Dylan und dessen Freundin Ende der 80er-Jahre zum Surfen nach Kolumbien und verliebt sich dort in Maria, die Liebe seines Lebens. Doch bald schon erfährt er, dass Maria die Nichte Pablo Escobars ist und Nick wird immer tiefer in die schmutzigen Geschäfte des Clans verwickelt.

Einpacken und flüchten

Escobar selbst lernt Nick zunächst als liebenden Onkel kennen, doch schon bald wird ihm der berüchtigte Drogenboss aufgrund seiner Unberechenbarkeit und Brutalität unheimlich. Und auch beim Zuschauer wächst das Unbehagen und das Bedürfnis, dem Protagonisten zu sagen, er solle doch bitte seine Maria einpacken und nach Kanada flüchten.

Für gewöhnlich rechnet man bei einem Gangsterfilm mit einem kaltblütigen Hauptdarsteller, der wie Walt in Breaking Bad nach anfänglichem Zögern Gefallen an seiner Macht findet. Doch dieser Film zeigt eine andere Möglichkeit: Der junge Nick befindet sich zum Höhepunkt des Films in einem moralischen Dilemma, aus dem er keinen anderen Ausweg als die Flucht findet. Daraufhin zeigt Regisseur Andrea di Stefano nochmal eine ganz andere Facette des Films: eine mitreissend spannende Verfolgungsjagd inklusive packender Action-Szenen.

Die letzte Szene des Films zeigt Nick und seinen Bruder, wie sie in Kolumbien am Strand ankommen und Dylan seinem Bruder sagt, dies sei das Paradies. In diesem Moment stellt sich der Zuschauer die Frage, was die beiden anders hätten machen können, an welchem Moment sie falsch gehandelt haben. Und er erkennt, dass ihr Schicksal besiegelt war, als Nick sich in Maria verliebt hat. Dass diese süsse und zu Beginn des Films so hoffnungsvolle Liebesgeschichte Nicks einziger Fehler war, ist wohl das Tragischste an dieser Geschichte.

Familienmensch und Mörder

Obwohl der Charakter Nick Brady fiktiv ist, erfährt das Kinopublikum doch auch einige Fakten aus der realen Zeit Pablo Escobars in Kolumbien. So gibt es eine Szene, in welcher der berüchtigte Drogenbaron die Polizei abkommandiert, ein Dorf zu durchsuchen, um Nick zu finden. Gerade hier wird Escobars nahezu unbeschränkte Macht in einigen Regionen deutlich.

Besonders interessant ist der Mix verschiedener Genres, denen sich der Regisseur bedient. Der Film lässt sich weder als Thriller noch als Biografie einordnen, was dazu beiträgt, dass er so facetten- und abwechslungsreich ist. Schauspielerisch überzeugt vor allem Oscar-Preisträger Benicio del Toro als Pablo Escobar. Gemeinsam mit dem Protagonisten Nick lernt der Zuschauer die unberechenbare Figur Schritt für Schritt kennen und staunt über del Toros beeindruckende Leistung, den Spagat zwischen grosszügigem Familienmensch und kaltblütigem Mörder in einem Charakter zu vollführen.

Es lassen sich auch negative Kritikpunkte zu diesem von der breiten Öffentlichkeit schändlich ignorierten Film finden. So kann einem der Charakter Nick Bradys durchaus zu naiv und die Liebesgeschichte zu Maria zu perfekt erscheinen. Doch hat Andrea di Stefano mit seinem Regiedebüt ein Werk geschaffen, das einen neuen Blickwinkel auf eine bekannte Geschichte wirft und zudem mit den Erwartungen des Zuschauers an ein gewisses Genre spielt und experimentiert.


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