Generationenstreit um die AHV?

Der Begriff der Generationengerechtigkeit versperrt zuweilen den Blick auf die in Realität viel komplexere Verzahnung von Lebensentwürfen der Schweizer. Ein Plädoyer für eine nüchterne und solidarische Diskussion Vorlage zur Altervorsorge 2020.

Die, die weniger Kinder auf die Welt bringen, sind Schuld.» «Ah, selbst ungewollt kinderlose Paare sollen noch für ihre unerfüllten Wünsche vom Staat bestraft werden?» «Das hat ja nichts mit einer Bestrafung zu tun, das ist bloss ein Fakt. Dadurch, dass es weniger Kinder gibt, ist die Rente nicht gesichert. Und sowieso, findest du es etwa gerecht, dass die alten Generationen jahrelang in die AHV einbezahlt haben und jetzt einige von ihnen mit Altersarmut zu kämpfen haben?» Die AHV und das Thema der Gerechtigkeit – etwa so könnte eine hitzige Diskussion darüber klingen, wenn man in den Esszimmern, Zugabteilen und selbst in der Wandelhalle des Bundeshauses dieses Landes etwas genauer hinhört.
Die Schweizerische Altersvorsorge basiert auf drei Säulen: Die erste Säule funktioniert nach dem Umlageverfahren, das heisst, die heutige arbeitende Bevölkerung zahlt für die aktuellen Rentner ein. In die zweite Säule hingegen wird nach dem Kostendeckungsverfahren in die betrieblichen Pensionskassen eingezahlt. In der dritten Säule soll eine private Vorsorge, teils auch steuerbefreit, ermöglicht werden. Das Risiko des demografischen Wandels in der ersten Säule und das der Finanzmärkte in der zweiten Säule sollen miteinander ausbalanciert werden. Die Schweizerische Altersvorsorge ist ein komplexes Gebilde aus drei Säulen, dessen finanzielle Entwicklung auch gerade aufgrund des demografischen Wandels nur schwer voraussehbar ist. Gewisse Entwicklungen sind aber abschätzbar, so zahlten gemäss des Bundesamt für Statistik im Jahre 1975 noch durchschnittlich 3.9 Junge für einen Rentner in die AHV ein, im Jahre 2015 waren es nur noch 3.7 Junge pro Rentner. Diese Effekte werden sich in den kommenden Jahren noch verstärken. Ausserdem ist die Lebenserwartung der Schweizer in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen, was auch zu einer längeren Rentenbezugsdauer und damit zu einer weiteren Belastung der AHV führt.

Fragestellungen der Generationengerechtigkeit

Schon vor der Abstimmung zur AHV-Plus Initiative, welche eine Erhöhung der AHV-Rente um zehn Prozent forderte, haben die Befürworter und Gegner der Initiative am Begriff der «Generationengerechtigkeit» ihre Säbel gewetzt. So war beispielsweise in der Berner Zeitung zu lesen: «Ein AHV-Ausbau in dieser Konstellation wäre fast schon ein Grund, den Generationenvertrag zu kündigen.» Während auf der Seite der Befürworter von einem Angriff der Gegner auf eine starke AHV unter dem «Deckmantel der Generationengerechtigkeit» die Rede war. Nun, wo das Differenzbereinigungsverfahren zu der Vorlage «Altersvorsorge 2020» von National- und Ständerat ansteht, wird unter dem politischen Kampfbegriff der Generationengerechtigkeit noch immer die Flagge gehisst. So wurde beispielsweise in der NZZ für eine «generationengerechte AHV-Finanzierung» durch die Einführung einer Schuldenbremse und im Angesicht der gestiegenen Lebenserwartung für eine Erhöhung des Rentenalters plädiert. Während die SP auf ihrer Website titelt: «Geradezu unverantwortlich ist wie sie [die SVP und die FDP] die Solidarität zwischen den Generationen mutwillig angreifen.»
Der Gedanke der Generationengerechtigkeit taucht schon in der Präambel der Bundesverfassung auf, klar die Verantwortung für die kommenden Generationen ausdrückt, aber auch generell das Wohl der Schwachen als Leitgedanke der Verfassung festsetzt. Die heutigen Generationen sollen also das Wohl der kommenden Generationen und aller sozioökonomisch schwächeren Gruppe in ihre Überlegungen einbeziehen und diesbezüglich nachhaltige Entscheidungen treffen.
Folgt man den politischen Diskussionen, dann erweckt es den Anschein, als ob entweder die «Alten» oder die «Jungen» bei dieser Vorlage gewinnen könnten. Doch mit dem Altsein ist es wie mit dem Fremdsein, die Wahrscheinlichkeit ist zum Glück relativ hoch, dass man es selber mal sein wird. Die «Alten» von heute sind ja schliesslich die «Jungen» von gestern. Die Vorstellung, dass sich bei der AHV zwei unvereinbare Entitäten, die «alte und die junge Front» gegenüberstehen sollen, ist falsch. Die älteren Generationen sonnen sich nicht nur auf der Terrasse ihrer Ferienhütte in Thailand, sondern finanzieren auch die Ausbildung der jüngeren Generationen, kümmern sich um die Enkelkinder und vererben ihnen ihr Vermögen. Diese informellen, sozialen und monetären Transfers von Alt zu Jung sind äusserst vielseitig, und zahlenmässig höher als die informellen Transfers von Jung zu Alt. Den älteren Generationen «dolce far niente» vorzuwerfen, ist ungefähr gleich undifferenziert wie den jüngeren ihre längeren Ausbildungszeiten und ihre Auslandsemester anzukreiden und ihnen die tieferen Geburtenraten übel zu nehmen. Gerade die gesellschaftlichen Änderungen, der jede Generation ausgesetzt ist, machen das Kalkulieren der Risiken so schwer.
Wenn wir von Generationengerechtigkeit sprechen, meinen wir in der Schweiz nicht nur die kommenden Generationen, sondern auch die zwei Generationen von Rentenbezügern und Rentenzahlern, welche sich nun in der politischen Diskussion so unversöhnlich gegenüber zu stehen scheinen. Der Begriff beinhaltet aber nicht nur Fragen der intergenerationellen Gerechtigkeit, sondern auch der intragenerationellen Gerechtigkeit. Steckt ein Rentner in finanziellen Schwierigkeiten und ein Anderer nicht, bedeutet dies vielleicht, dass ein AHV Beitragszahler zusätzlich finanziell seinem Elternteil aushelfen wird und ein anderer das nicht tun muss. Wird das Rentenalter flexibilisiert, könnte das für Gutverdienende bedeuten, dass sie sich eine frühere Pensionierung leisten könnten als schlechter Verdienende.

Der Zankapfel des Rentenalters

Ähnliche intragenerationelle Gerechtigkeitsfragen stellen sich auch bei der Angleichung des Rentenalters der Geschlechter. Es können politische Stimmen vernommen werden, die meinen, dass eine Erhöhung des Rentenalters für die Frau solange noch ungerecht sei, wie diese in der Arbeitswelt für gleiche Arbeit noch nicht den gleichen Lohn erhalten. Das erscheint aber nur wenig einleuchtend, da wir eine Ungerechtigkeit schlecht als solche belassen können, mit der Argumentation, dass noch andere Ungerechtigkeiten zu bekämpfen seien. Stattdessen würde es Sinn machen, sich jeder Ungerechtigkeit Schritt für Schritt annehmen zu wollen.
Wenn man also genauer hinschaut, stellen sich bei der AHV komplexe Solidaritätsfragen mit einem langen Planungshorizont und mit ein paar unbequemen, unbekannten Grössen. Die sozialen und wirtschaftlichen Interdependenzen zwischen Jung und Alt sind aber zu vielschichtig, als dass man sie auf die Idee «die älteren Generationen dort und wir hier» vereinfachen sollte.

Mut zur Solidarität

In einer Welt der zu einfachen politischen Patentrezepte, in Zeiten der zu starken Personalisierung der Politik inklusive Dominanzgehabe und teils blutleeren politischen Programmen, brauchen wir gerade bei solchen sozialpolitischen Themen den Mut, solidarische Werte zu vertreten. Ausserdem sollte es auch in der Politik zum guten Ton gehören können, Wissensdefizite zugeben zu dürfen, ohne auf der ganzen Linie als Politiker an Glaubwürdigkeit und Zustimmung zu verlieren. Jeder Bürger darf von den gewählten Parlamentariern in der momentanen Diskussion erwarten, dass diese nicht nur mit der nötigen Kompromissbereitschaft ans Werke gehen, sondern auch statt ideologischer Grabenkämpfe die realen gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Voten ins Auge fassen. Die Aufgabe der fünften Staatsgewalt der Schweiz, des Stimmvolks, wird es sein einen verantwortungsbewussten Gang an die Urne einzulegen, sollte die Altersvorsorge 2020 vors Volk kommen. Aufgrund des demografischen Wandels sei dann vor allem den jüngeren Generationen ans Herz gelegt, ihre Stimme abzugeben. Es bleibt aber sowieso zu hoffen, dass wir alle unsere Stimmmacht nutzen werden und dabei nicht nur unser eigenes Wohl, sondern auch das unserer Eltern, Grosseltern, sowie das unserer allfälliger Kinder und Enkel ins Auge fassen.


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