Geschichten von der Gasse

Vom Rosenberg zur Gasse: Auf unserem Trip zur Gassenküche treffen wir auf Drogenabhängige und Obdachlose, die uns einen Einblick in ein komplett anderes Leben in St. Gallen gewähren.

Entschuldigen Sie, können Sie uns sagen, wo es zur Gassenküche langgeht?» «Ja, ihr könnt mitkommen», brummelt er. Mein Kollege und ich entscheiden spontan, uns von einem Obdachlosen den Weg weisen zu lassen. Auf der Strasse fällt mir auf, wie die Leute ihn anstarren. Ihr Blick ist auf ihn fixiert, ehe sie mich mit fragenden Augen anschauen – als sei er gebrandmarkt. Seine Gestalt ist auffällig: Schlank und mit gekrümmtem Gang setzt er einen Fuss vor den anderen, nur um alle 30 Sekunden kurz anzuhalten. Geduldig wartet sein Hund auf ihn. Da ist irgendetwas, das er unbedingt aus seinen Taschen hervorkramen muss. Wir passieren dutzende Tattoo Läden, ein türkisches, griechisches, sogar ein senegalesisches Restaurant, bevor wir endlich in der Gassenküche ankommen.

Stiftung Suchthilfe

Die Gassenküche, welche seit 1987 existiert, befindet sich in der Linsebühlstrasse. Sie gibt Obdachlosen und anderen Bedürftigen die Möglichkeit – vor allem in den Wintermonaten – ein warmes Plätzchen zu finden, an welchem sie Nachmittags verweilen können. Schlafen kann man dort nicht; eine Notschlafstelle gibt es in der Unterkunft für Obdachlose (UFO) an der Grünhaldenstrasse. Momentan bietet die Gassenküche Platz für 40-45 Personen und im Schnitt kommen jeden Mittag etwa 20 Personen vorbei. Die Auffangstätte finanziert sich ausschliesslich durch Spenden von Einzelpersonen, der Privatwirtschaft und dem kirchlichen Umfeld. Sie ist ein Angebot der Stiftung Suchthilfe. Die Stiftung versucht die Drogenproblematik innerhalb der Stadt St. Gallen über verschiedene Wege anzugehen und dauerhafte Lösungen zu finden. Ihre Projekte reichen von Wohngemeinschaften über medizinische Betreuung bis hin zu Arbeitsmöglichkeiten für die Obdachlosen.

Vergiss die Mensa

Das Essen in der Gassenküche ist gut und es kostet nur drei Franken. Grundsätzlich darf sie jeder besuchen: Ein Geheimtipp für Studenten? Während des Essens komme ich sofort mit einem freundlichen Pärchen ins Gespräch.
«Was macht ihr denn hier? Von der Universität? Ich finde das schön, dass ihr euch dafür interessiert.» Die Rede ist vom Besuch eines anderen Milieus: Normalerweise kommen hier nur Drogenabhängige, Obdachlose und gelegentlich ein Bauarbeiter vorbei. Wir möchten mehr über die Lebensgeschichten und die Umstände der Leute hier erfahren.
Manuel, 50, erzählt uns von einem schweren Arbeitsunfall. Als Lastwagenchauffeur war er in ganz Europa unterwegs. Die Speditionsgesellschaft hatte – ohne ihn davon in Kenntniss zu setzen – ein Fass auf die Ladefläche seines Lastwagens gepackt. Auf der Fahrt in die Schweiz hatte das Fass jedoch Leck geschlagen: Als Manuel die Seite des LKWs zum Abladen öffnen wollte, kam ihm die Säure aus dem Fass entgegengespritzt und entstellte ihn. Im Krankenhaus mussten ihm ganze Muskelstränge wie der Trizeps entfernt werden. «Hier, fass mal an.» Da fehlt tatsächlich ein Stück des Arms; auch Löcher in den Beinen habe er. Nach einer Umschulung zum Tierpfleger arbeitete er in der Reptilienabteilung: Krokodile, Schlangen, sogar einen Affen habe er grossgezogen, erzählt er uns stolz. Doch mit den Arbeitskollegen lief es nicht so gut; sie hätten ihn schlussendlich aus dem Betrieb gemobbt.
Nicht zu vergessen, dass Manuels Leben von der Drogensucht überschattet wurde. Wann hat es damit angefangen? «Wir sind schon seit 30 Jahren dabei», meint Susi, 48. Sie war früher an der Kunstgewerbeschule in Bern und hat als Kirchenrestauratorin gearbeitet. Haschisch war für sie die Einstiegsdroge. Als Teenager konnte sie damit die Leere, welche sie zu dieser Zeit verspürte, füllen.

Schweizer Schande auf offener Strasse

Manuel und Susi machen nicht den typischen Eindruck von Drogenabhängigen. Sachkundig erzählen sie uns von Sugar, Methadon und Benzodiazepinen. Sugar ist ein Begriff für Heroin; Methadon hat als Heroin-Ersatzstoff im Rahmen von Substitutionsprogrammen seine Wirkung bewiesen. «Methadon macht dich aber kaputt, es schädigt Zähne und Organe. Sevre Long ist ein neuer Stoff, der viel besser wirken soll. Es nimmt dir die Gier vom Heroin. Davon reicht auch eine kleinere Dosis.»
Aber am schlimmsten seien Benzodiazepine wie Dormicum; ist die Wirkung des Heroins nach Jahren nicht mehr dieselbe, so versuche man unablässig das gleiche Gefühl in Tablettenform zu bekommen. Doch «Benzos» sind teuer und machen enorm abhängig. Allgemein seien die meisten heute polytoximanisch, was bedeutet, dass sie mehrere Substanzen gleichzeitig konsumieren. «Früher war die Drogenszene aber viel schlimmer. Die Kollegen von damals hast du heute nicht mehr. Viele sind gestorben.»
Als in den 1980er-Jahren die grosse Drogenflut über die westliche Hemisphäre hereinbrach, mitbedingt durch einen Preisverfall des Heroins – waren die zuständigen Behörden überfordert. In vielen grossen Schweizer Städten entwickelte sich rasch eine offene Drogenszene. In Zürich wurde vor allem der Platzspitz zur Hochburg der Süchtigen. Täglich versammelten sich dort 3000-5000 Süchtige. In Spitzenjahren starben knapp 450 Menschen an einer Überdosis, wöchentlich mussten tausende Menschen am Platzspitz reanimiert werden.
Manuel und Susi haben die offene Drogenszene miterlebt. Sie erzählen von bewaffneten libanesischen und albanischen Drogengangs, die sich einen regelrechten Krieg um den Stoff lieferten: Leute wurden auf offener Strasse erschossen, Polizisten setzten Gummischrot gegen Süchtige ein. Eine traumatische Szene ist Susi immer noch im Kopf geblieben: «Ein Mann von der Drogengang stand da und schoss wahllos auf Passanten. Ich brachte mich in Sicherheit und hörte die Schreie einer Frau. Ein Doberman war am Heulen; sein Herrchen wurde angeschossen. Ich holte Hilfe in der Telefonkabine. Die Polizei suchte noch nach dem Täter, doch er war spurlos verschwunden.»
Mitglieder der Drogenbanden hielten die Abhängigen zum Teil wie Sklaven: «Die Süchtigen bunkerten die Drogen der Banden bei sich zuhause. So konnte die Polizei bei Razzien nichts auffinden. Dafür durften sie konsumieren und erhielten andere Vorzüge. Manche von den Mitgliedern waren freundlich und gaben dir essen; andere wollten Sex von den Frauen.»
Schlussendlich ging es im Drogenkrieg um eine riesige Menge Geld: «Ein Libanese hielt mir mal die Plastiksäcke seines Verdienstes entgegen: Massen an Zehnern, Zwanzigern, Fünfhundertern waren bunt durcheinandergemischt. Als ich hineinschaute und das Geld sah, schien alles so unwirklich. Sie verdienten bis zu 35 000 Franken pro Tag.»
Zu der prekären Sicherheitslage kamen auch die katastrophalen hygienischen Bedingungen dazu. Fast jeder der Süchtigen steckte sich mit Hepatitis C an; nach Jahren der Erkrankung sind schwere Leberschädigungen die Folge. St. Gallen war mit denselben Problemen in einer kleineren Grössenordnung konfrontiert. Anlaufpunkt für die Süchtigen in der Stadt war erst das Bienenhüsli und später dann der Schellenacker.
Als die Beschwerden in der Bevölkerung schweizweit zunahmen und die Drogenproblematik immer weiter ausuferte, griff der Bund ein. Mit dem 4-Säulen-Modell entschied er sich für einen Mittelweg zwischen Repression und Suchthilfe. Fortan wurde den Süchtigen legales Heroin und Methadon abgegeben. Das Modell beinhaltet Prävention, Therapie, Schadensminderung (Drogenkonsum im kontrollierten Rahmen) und Repression. Vor allem die Repression wird hierbei als kritischer Punkt betrachtet. Mehrere Forschungsergebnisse hinterfragen ihre Sinnhaftigkeit, da die Anzahl Drogentoter mit der Härte zunähme. Im Gegensatz dazu wird die Methadonbehandlung der Süchtigen als Erfolg eingestuft: Zusammen mit der Abgabe von sauberem Spritzmaterial konnte so die Anzahl der Drogentoten drastisch gesenkt werden.

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Normales Leben abseits der Sucht

Heute ist Susi froh, als Drogenabhängige in der Schweiz leben zu können. Die Spanierin ist hier aufgewachsen und kennt kein anderes Zuhause; doch habe sie schon eine Mahnung vom Migrationsamt erhalten. Die drohende Ausschaffung in ein Land, in dem sie keine Zukunft sieht, hat ihr grosse Angst eingeflösst. Als drogenabhängige Person muss man immer mit der Angst leben, beim Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz erwischt zu werden.
Susi und Manuel gehen eine Zigarette rauchen. Wir schauen uns in der Gassenküche näher um und uns fällt Kurt auf. In Hemd und Jeans gekleidet, sticht er aus der Masse heraus. Ruhig sitzt er da und liest «Im Weltinnenraum des Kapitals» des Kulturwissenschaftlers Peter Sloterdijk. Zusammen philosophieren wir über das Schreiben, den Kapitalismus, den Zinsgewinn von reichen Erben bis hin zur Abschaffung der Einkommenssteuer. Interessant, was für Personen man hier treffen kann. Wir stehen wieder auf und spielen eine Runde Kicker mit einer Sozialarbeiterin und einem Besucher. Nach dem Spiel, stossen wir wieder auf Susi und Manuel und fragen sie, ob sie für ein Foto bereit wären.
Sie sind seit 30 Jahren ein Paar und beim Fotoschiessen wird ihre Zuneigung füreinander ersichtlich: «Wir sind kein Drogenpärli. Wir teilen uns alles. Nicht nur die Drogen. Wie sieht es denn eigentlich mit Ferien aus? «Das Geld ist knapp, aber wenn man IV bezieht, darf man bis zu 3 Monate ins Ausland.» Sie waren bisher viel in Südamerika unterwegs: Von Brasilien und Kolumbien bis nach Panama. «Die vom Staat abgegebenen Drogen darf man im EU-Raum mitnehmen. Alles ausserhalb obliegt der eigenen Verantwortung.» Riskant, wenn man bedenkt, dass in manchen Ferienländern bei Drogenbesitz die Todesstrafe droht.

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Die Leute haben Vorurteile

Suchtabhängige werden oft stigmatisiert und fühlen sich ausgegrenzt. Susi und Manuel laden uns in ihre Wohnung ein, die – wie sie betonen – sauber sei und nicht der eines Junkies entspreche. Die Idee, mit uns nochmals über den Text zu gehen, gefällt Susi: «Mit einer sinnvollen Beschäftigung fühlen wir uns auch mal wertgeschätzt», denn was den meisten fehlt, ist eine klare Tagesstruktur. Eine Arbeit oder eine emotional stabile Bezugsperson sind wichtig, um von der Sucht wegzukommen. «Mit dem Wissen, das ich heute habe, würde ich ein Rauschmittel wie Hasch nicht noch einmal anfassen», betont Susi. Ihre Geschichte erinnert uns daran, dass solch ein Schicksal jeden von uns treffen könnte. Das ist unheimlich. Was eine solche Sucht bewirkt, ist enorm schade. Nach unserem Besuch hinterlassen Susi und Manuel bei uns den Eindruck zweier liebenswürdiger, einfühlsamer und intelligenter Menschen, welche noch viel mehr vollbringen könnten.

Weitere Infos zur Gassenküche finden sie hier.


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