Impressionen aus dem eisigen Norden

Ein Austauschsemester in Tallinn. Roman Zimmermann berichtet von seinen Erfahrungen mit Esten, Russen und natürlich den Italienern.

Ein bisschen Geschichte vorweg: Die alten Mauern der estnischen Hauptstadt Tallinn, innerhalb derer ich gewohnt habe, signalisieren schon von weitem, dass es hier wohl kaum ein Jahrhundert ohne einen neuen ausländischen Besetzer gab. Das Gemisch aus deutschen, dänischen, schwedischen, finnischen und russischen Einflüssen auf die estnische Kultur verwirrt selbst die Esten – kaum jemand kann mit Sicherheit bestimmen, was nun estnisch ist und was nicht. Im touristischen Restaurant «Pepersack» wird beispielsweise Schweinshaxe mit Sauerkraut in mittelalterlicher Burgatmosphäre verkauft und von blonden Mädchen im Dirndl, natürlich in den estnischen Landesfarben blau, schwarz und weiss, serviert. Irgendwie verwirrend.

Nur die Russen, welche Estland zur Zeit der Sowjetischen Union als eine Art Kolonie regierten, sind nie «eingemischt» worden, dies ist bis heute an jeder Ecke zu spüren. Ob in Klubs, Bars oder sogar in der Uni-Mensa, sie verstehen sich nicht besonders, die Esten und die Russen. Die Spaltung der diversen Landesidentitäten ist geografisch ersichtlich: In Narva an der russischen Grenze wünschen sich viele die alten Sowjetzeiten zurück, wohingegen in Pärnu, an der Küste im Westen, eine regelrechte «Russenfeindlichkeit» herrscht. Die Esten selber fühlen sich vielmehr als Skandinavier, im Gegensatz zu den anderen baltischen Staaten, welche sich tendenziell stärker zum Osten bekennen.

Ankunft

Schweizer Korrektheit und Pünktlichkeit sind nicht zu erwarten, tritt man die Reise nach Estland an. Bei meiner Ankunft musste ich als Erstes die Schlüssel für meine Wohnung von einem Italiener entgegennehmen, der kaum Englisch sprach. Als Quittung für Depot und Miete, was doch einen relevanten Betrag ausmachte, gab es irgendeinen Zettel, von welchem man sich nie und nimmer einen rechtlichen Anspruch hätte ableiten können. Für einen Vertrag auf Estnisch, welchen weder ich noch der Vermieter verstanden, musste ich dann doch kämpfen. Schliesslich kam dann bei der Anmeldungsbehörde heraus, dass mein Name ins Feld «Adresse» eingetragen wurde, was für reichlich Gelächter im sonst eher tristen Amtsbüro sorgte. Mein grosser Fehler war, die Wohnung bereits im Voraus organisiert zu haben, was ich für den «sicheren» Weg hielt. Die richtige Vorgehensweise wäre allerdings, sich in Estland umzuschauen, zu vergleichen und sich schliesslich für eine der Tausenden von freistehenden Wohnungen zu entscheiden.

Estonian Business School

Der Empfang und die Eintrittsformalitäten an meiner Gastuniversität, der Estonian Business School, verliefen jedoch sehr geschmeidig und ohne Probleme. Hier kam mir das tiefe Level an Formalität sehr entgegen. Die Schule ist klein und persönlich. Man kennt die Administration und die Dozenten, welche jeweils für Klassen von 20 bis 30 Personen verantwortlich sind und in Englisch unterrichten. Zu meinem Erstaunen gestaltet sich der Unterricht grundsätzlich anders als an der HSG. Mitmachen, «Homework» und «Midterms» fallen hier viel mehr ins Gewicht als die Prüfungen am Ende des Semesters. Die Dozenten sind zum Grossteil Leute aus der Praxis, die Abwechslung suchten, also keine eigentlichen Akademiker. Firmenbesuche oder Aufgabenstellungen aus dem Geschäftsalltag sind an der Tagesordnung. Oft besuchten wir die Firmen, bei welchen unsere Dozenten arbeiteten, schauten uns Produktionsprozesse an oder analysierten deren Marketing. Auf theoretischer Ebene wird das St. Galler Niveau nicht erreicht, doch die Kurse an der Estonian Business School sind meiner Meinung nach spannender, interaktiver und persönlicher.

Die echte Krise

Estlands Wirtschaft hat sich seit der Jahrtausendwende explosionsartig entwickelt. Genauso stark wurden die Esten nun jedoch von der aktuellen Wirtschaftskrise getroffen. Es gehört fast schon zur estnischen Kultur, jegliche Ausgaben mit Krediten zu decken. Estland hatte nach der Sowjetzeit keine Vermögen im Land, jedoch eine grosse Motivation, schnell vorwärtszukommen. Am besten ging dies in der E-Commerce-Branche, wo es kaum Eintrittsbarrieren gab. Es existieren wohl nur wenige Orte auf der Welt, wo auf so kleinem Raum so viele Online-Geschäfte betrieben werden. Mit dem Wachstum, welches hauptsächlich dem Service-Sektor zu verdanken ist, sind die Löhne plötzlich in astronomische Höhen gestiegen. Vermögen hatten sie damit keines aufgebaut, doch trotzdem – nun konnten sich zumindest die erfolgreichen Esten aufgrund der Kredite und Leasing-Angebote alles leisten, d. h. deutsche Autos, Schweizer Uhren und Kleider aus Italien. Die durch die gestiegenen Löhne immer grösser werdenden Importströme haben die estnische Wirtschaft nur noch mehr in das Loch gerissen, in dem sie nun steckt. Während ich in Schweizer Online-Zeitungen von leichten Wachstumseinbussen las, standen in Tallinn bereits ein Viertel der Bürogebäude leer. Es war ein guter Moment, um Student zu sein.

Persönliche Impressionen

Meine persönliche Erfahrung mit den Einheimischen und den anderen Studenten war für mich sehr neuartig. Während ich gerade wusste, dass da oben im Norden wohl grossteils blonde Frauen rumlaufen werden, war Tallinn bei den Italienern bereits als eine Art Mekka fürs Ausgehen bzw. für hübsche Frauen bekannt. Dementsprechend sah dann auch die Statistik der Austauschstudenten meiner Uni aus: Von zirka 100 Studenten waren 60 aus Italien, darunter fünf Mädchen. Ich kam da als Schweizer natürlich gut weg, da die Italiener bereits durch ihre Armee von «in-Estinnen-vernarrte-Machos» in Verruf geraten waren und ich als «kultivierter» an meiner Uni der Einzige meiner Herkunft war.

Partys

Nun zu den Partys: Was eine Party ausmacht, sind Menschen, Musik und eventuell noch Interieur. Die beiden letzten sind im EU-Land Estland, ob man es glaubt oder nicht, vergleichbar mit der Schweiz, zumindest was den Mainstream angeht. Es scheint, dass Estinnen tanzfreudiger sind als Schweizerinnen, denn in den Clubs machten die Frauen, zumindest am Wochenende, zwischen 50 und 60 % der Besucher aus, was einer Party einen Charakter gibt, den ich persönlich noch nicht kannte. Zwei- bis dreimal die Woche ausgehen war Standard bei den Austauschstudenten. Schon die vielen Erasmus-Partys sorgten für ein dichtes Programm. Ich persönlich habe es jedoch bevorzugt, mich mit ein, zwei Freunden mitten ins estnische oder russische Partyvolk zu mischen. Russenclubs sind noch einiges exotischer, in dem aus Schweizer Sicht schon exotischen Umfeld. In russischen Clubs gehören Schlägereien zum guten Ton, was sehr amüsant sein kann – zum Beobachten, versteht sich. Von einer aktiven Teilnahme rate ich jedoch ab. Bei diesen Prügeleien hat niemand ein Messer dabei und es wird auch niemand bis zur Bewusstlosigkeit verhauen, wie es in der Schweiz immer öfter passiert. Für mich machte es den Anschein, dass es einfach darum ging, den Mädchen zu imponieren und den Ausländern den russischen Stolz zu zeigen. Estnische Tanzlokale orientieren sich schon eher an MTV-Standards: Grosse Partys, bekannte DJs mit grossen Namen, Eleganz, aber kein Protz. Mir hat es gefallen!

Estland ist definitiv als Austauschdestination zu empfehlen. Abgesehen von der Kälte und den lediglich 4 Stunden Sonnenschein am Tag gegen Ende Dezember bietet es alles, was ein Studentenherz glücklich macht: eine etwas andere Uni, die zwar nicht so renommiert, dafür aber praxisorientiert und sehr interessant ist, viele mögliche Reiseziele, tiefe Preise, gute Partys und dank der (kleinen) Grösse Tallinns ein optimales Mass an Persönlichkeit.


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