«Kanun» – Gesetz der Blutrache

Verständlich, wenn man sich in einer Lernphase genervt fragt, wieso man ganze Gesetzestexte auswendig lernen muss. Doch wir können froh sein, dass wir überhaupt akzeptierte und verbindliche Gesetze haben. Dass dies nicht selbstverständlich ist, und wie dramatisch sich das auswirken kann, zeigt das Beispiel der Blutrache in Albanien.

Man verliert das Leben, aber nicht die Ehre. Kein Blut bleibt ungerächt». Dieses Zitat stammt aus dem Kanun, einem mündlich überlieferten Gewohnheitsrecht aus Nordalbanien, welcher das Zusammenleben der Menschen regeln soll. Die Blutrache bildet dabei einen Teil des Strafrechts und beschreibt einen genauen Normen- und Verhaltenskodex. Für Verbrechen, insbesondere für Tötungen, sieht der Kanun einerseits Formen der öffentlichen Bestrafung des Täters vor und andererseits enthält er Selbsthilferegeln für die Angehörigen des Opfers. Tötungen oder andere Ehrverletzungen werden als «Ultima Ratio» durch Tötungen gerächt. Hierbei straft die Familie des Opfers den Täter und seine Familie oftmals auch aus der Absicht heraus, die vermeintlich verlorene Familienehre wiederherzustellen. Der Begriff «Familie» wird in diesem Zusammenhang oft weiter gefasst als im mitteleuropäischen Verständnis und kann am ehesten mit dem Wort «Clan» umschrieben werden. Implizit bedeutet das, dass wer als sogenannter «Ausgestossener» nicht vom Clan beschützt wird, in diesem System sozusagen schutzlos ist.

Genau geregelter Ablauf

Der Kanun, auch das Gesetz der Väter genannt, schreibt einen genauen Ablauf der Blutrache vor: Der Täter darf zum Beispiel nur auf offener Strasse umgebracht werden, nicht in seinem eigenen Haus. Sobald der Rächer den Blutschuldner erblickt, muss er dessen Name laut ausrufen und warten bis sich dieser umdreht. Dann steht ihm genau ein Schuss zur Verfügung. Eine andere Tatwaffe als die Schusswaffe, so zum Beispiel ein Messer, ist nicht zugelassen. Nach der Tötung muss sich der Rächer bei der Familie des Blutschuldners entschuldigen und ist verpflichtet, an der Beerdigung teilzunehmen. Gelingt die Tötung nicht, ist es Clanmitgliedern des Blutschuldners erlaubt, ein Mitglied der Rächerfamilie zu verletzen, jedoch nicht zu töten.

Andernfalls muss sich der Rächer nach seiner Tat baldmöglichst isolieren, um einer erneuten Blutrache der verfeindeten Familie zu entgehen. Er darf sein eigenes Haus auf unbeschränkte Zeit nicht mehr verlassen, da er sonst sofort ermordet werden könnte. Dasselbe gilt für die anderen männlichen Familienmitglieder.

Macht durch politische Unsicherheit gestärkt

Der im Mittelalter entstandene Kanun wurde jeweils von Vater zu Sohn weitergegeben, unabhängig ob Christen oder Muslime. Während der kommunistischen Diktatur von Enver Hoxha in Albanien war der Mechanismus der Blutrache jedoch aufgehoben; denn der Staat konnte seine Rechtshoheit landesweit durchsetzen. Nach dem Fall des Diktators, in der rechtlichen Unsicherheit der Wende zur Demokratie, haben sich die Menschen wieder dem vordemokratischen «Lek Dukajin», der ersten schriftlichen Fassung des Kanuns, zugewandt.

Doch während der zirka 50-jährigen Diktatur sind die Regeln des «Lek Dukajin» in Vergessenheit geraten. Gerade in abgeschiedenen und bildungsfernen Orten sind nur noch vage Vorstellungen der Normen vorhanden. Die Menschen wissen nicht mehr genau, was die Blutrache eigentlich bedeutet, geschweige wissen sie, dass der Kanun weit mehr enthält als nur die Blutrache. In Mord- und Totschlagprozessen wird die Blutrache ausserdem oft als Vorwand benutzt, um eine mildere Strafe zu erhalten. Obwohl das moderne Albanien seit 1995 über ein Strafgesetzbuch verfügt, das Mord mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 20 Jahren ahndet und in dem «Mord aus Rache» insbesondere erwähnt wird, erreicht seine Macht nicht alle Winkel des Landes.

Gerade in Blutfehden sind dem Staat oft die Hände gebunden, da er in der uralten Tradition des Kanuns nicht als Akteur anerkannt wird. In den Augen der verfeindeten Familien besitzt er keine Autorität und wird sein Gewaltmonopol wird nicht akzeptiert. Nur ein traditioneller Schlichter kann die Familien im Namen der anderen um Vergebung bitten und so der Fehde ein Ende setzen.

Selbstjustiz weltweit

Doch nicht nur in abgelegenen Dörfern Albaniens findet die Selbstjustiz statt. Im angelsächsischen Raum ist im Gegensatz zu Albanien eher eine Art «systemstabilisierende Fremdjustiz» geläufig. Diese Gruppen engagieren sich häufig in Bereichen, in denen sie entweder die Durchsetzung des geltenden Rechts für mangelhaft halten, oder wo sie generell Gesetzeslücken vermuten. Besonders ausgeprägt war dies zu Goldrauschzeiten, aber spätestens seit dem Tod von Trayvon Martin, wird auch in der amerikanischen Öffentlichkeit wieder verstärkt über solche «vigilants» debattiert.

Auch das Schweizer ZGB sieht Bereiche vor, in denen Selbstjustiz durchaus erlaubt ist. So gestattet es etwa in den Artikeln 926 ff. unter dem Titel «Besitzesschutz», Eigentümern oder Besitzern einer Sache, sich eines Störers nötigenfalls auch mit «Gewalt zu erwehren». Einziger Vorbehalt: Die Gewalt darf nicht unverhältnismässig sein. Diese Bestimmung soll dazu beitragen, unnötigen Strafverfolgungsaufwand zu vermeiden. Sollte also jemand in die WG einbrechen, darf man ihm das erbeutete Diebesgut entwenden, ohne rechtliche Folgen fürchten zu müssen.

So gross ist das Vertrauen in die Macht der albanischen Justiz noch nicht. Dennoch sind Experten überzeugt, dass die Blutrache im Laufe der Zeit wieder verschwinden wird. Denn immer mehr junge Menschen lehnen den Kanun und seine Folgen für die Familien ab. Zu viele sind Gefangene in ihrem eigenem Haus, wegen einem Streit, an deren Ursache und Eskalation sie sich, wenn überhaupt, nur ansatzweise erinnern können. Viele hoffen, die Schlichter können dem albanischen Volk diese schwere Last der in Vergessenheit geratenen Tradition von den Schultern nehmen, die keiner von sich aus abzuschütteln wagt. Denn zu gross ist die Angst, doch noch auf offener Strasse niedergestreckt zu werden. Bleibt zu hoffen, dass sich die Prognosen der Experten erfüllen werden und die Blutrache in einigen Jahren nicht mehr als ein dunkles Kapitel der albanischen Vergangenheit sein wird.


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