Mit Gummi und Puder zur Lebensfreude

Drag ist für manch einen eine schwer greifbare Kultur. Die Verwandlung von Tristan zu Ennia zeigt aber, dass hinter dieser Szene mehr steckt als Glitzer und falsche Brüste.

Kurz nach halb acht Uhr an einem Samstagabend treten wir aus dem Lift im fünften Stock eines Neubaus im Quartier Zürich Hardbrücke. Neben der Klingel der angesteuerten Wohnung prangt der Umriss eines kleinen Herzens. Tristan öffnet uns die Tür und wir werden sogleich mit einem breiten Lächeln und drei Küsschen – rechts, links, rechts – auf die Wange begrüsst. Er habe schon einmal ein wenig mit den Vorbereitungen begonnen, sagt er und streckt uns seine perfekt manikürten Fingernägel entgegen.

Die grosszügige Wohnung, welche Tristan Eckert seit neun Jahren mit seinem Lebenspartner bewohnt, würde wohl so manche Kinderaugen erstrahlen lassen: Der gesamte Türrahmen des Badezimmers ist mit quietschbunten, jedoch farblich sortierten, Gummitierchen dekoriert und im Flur steht ein «The Simpsons»-Flipperkasten. Dicht hinter dem Wohnzimmerfenster ziehen im Minutentakt lautlos Züge vorbei und geben der Wohnung ein urbanes Feeling im «Gotham City»-Style.

Wie alles anfing

Tristan ist auf den ersten Blick ein ganz normaler Typ Mitte dreissig – wenn da nur nicht der Fingernagel im «Hello Kitty»-Pink wäre. Das erste Mal mit Drag angefangen habe er mit zarten 17 Jahren, erzählt er, während er sorgfältig seinen Dreitagebart wegrasiert – der erste Schritt der aufwendigen Verwandlung in eine vorübergehende Frau. Das T&M, der erste Schwulenclub der Schweiz in Zürich, suchte 1997 per Ausschreibung nach Nachwuchstalenten für die Bühne mit zugehöriger Ausbildung. Eine Leidenschaft für Theater und Gesang in petto entschloss sich Tristan diesem Aufruf zu folgen und investierte mit zwei weiteren Teilnehmern einen Monat lang Zeit und Geld in die Vorbereitungen.

Die Show wurde dann allerdings schon nach der zweiten Aufführung abgesetzt. Trotzdem durfte Tristan als einziger bleiben und gestaltete das Programm fortan in geänderter Formation mit zwei Strippern zur Überbrückung während den Kostümwechseln. Dies ging eine Zeit lang gut, mit der parallel laufenden Lehre im Detailhandel fehlte ihm allerdings auf längere Dauer das benötigte Mass an Zeit für die Weiterführung solcher Auftritte. Drag fortgeführt hat er dann nur noch sporadisch auf Partys; mit dem Kennenlernen seines heutigen Mannes 1999 flauten allerdings auch diese «Auftritte» mit der Zeit immer mehr ab, bis sie schliesslich ganz verschwanden.

Sein, wer man will

Diesem traurigen Schicksal unterliegen mittlerweile auch Tristans Augenbrauen, indem er etliche Male abwechslungsweise erst gewöhnlichen Bastelleimstift und anschliessend Puder auf die klebrigen Stellen aufträgt, bis sie kaum mehr zu sehen sind und damit Platz geboten wird, um leicht höher Neue aufzumalen.

Diese Prozedur ist zwar langweilig und dauert am längsten, doch sie ist essenziell für das Endergebnis: «Mit meinen eigenen Augenbrauen fühle ich mich viel eher wie ein angemalter Tristan als eine neue Person.» Eine neue Person zu werden für kurze Zeit, das ist das Kernelement von Drag. In seinen frühen Dragzeiten lebte er dies durch Trisha Williams aus, heute ist er Ennia Face. «Früher versuchte ich Drag eine bestimmte Richtung zu geben und mich so zu verhalten, wie ich dachte, dass man sich als Dragqueen zu verhalten oder zu kleiden habe. Doch das ist Unsinn, denn mit Drag kannst du alles sein. Du kannst trashy sein, du kannst bitchy sein, du kannst lustig sein, du kannst gehemmt sein – du darfst dir alles aussuchen. Und ich als Ennia mache einfach jedes Mal, worauf ich Lust habe.»

Dabei sein, ist alles

Mit kräftigen Balken arbeitet Tristan inzwischen an der zu erzeugenden Weiblichkeit in seinem Gesicht, während wir uns in seinem persönlichen Drag-Room umschauen. Auf dem Regal sind farbenfrohe Perücken aufgereiht, in der Ecke hängen schillernde Kleider an einer Kleiderstange. Neben Corsagen und Gummibrüsten stechen vor allem auch die High Heels in Grösse 43 ins Auge. «Das ist etwas, das mir aufgefallen ist: Man kann eine Stunde lang sein Gesicht bemalen und man sieht wunderschön aus, man hat Männlichkeit weggeschminkt, Femininität hingeschminkt, man glitzert, man hat Farbe und die Leute begegnen einem und sagen ‹Wow, diese Schuhe!›», lacht Tristan ab unseren imponierten Blicken.

Enthusiastisch ruft er, er möchte uns sein schönstes Paar zeigen und eilt ins Schlafzimmer, um kurz darauf mit strassbesetzten High Heels zurückzukehren. «Die spare ich mir für einen richtigen Auftritt auf!». Ein richtiger Auftritt, das ist Tristans Traum. Zurzeit beschränken sich seine Auftritte als Ennia Face auf die Präsenz an Partys, an welchen er wie ein normaler Partygänger teilnimmt, allerdings durch seine Aufmachung massgeblich zur Gesamtstimmung im Club beiträgt. «Ich muss einfach mein fröhliches Ich bleiben, mich ein wenig mit den Leuten unterhalten, mit ihnen tanzen, mich ab und an ein wenig in den Mittelpunkt stellen und dann ist gut.»

Auf die Verwirklichung seines Fernzieles, der eigenen Shows, hinarbeitend, hat Tristan begonnen, sich seine Witze zu notieren – «denn ich hab gemerkt, eigentlich bin ich noch ziemlich lustig!». Eine besondere Vorliebe hat er dabei für Wortwitze. So hat er sich beispielsweise überlegt, was denn das Gegenteil von Konstantinopel sei. Ganz klar: «Sporadischminhonda». Auch sein Künstlername konstituiert sich aus einem Wortwitz – die Überlegung hinter Ennia Face springt einem bei lauter Aussprache förmlich ins Gesicht.

Verwandlung als Lebensinhalt

Nach rund eineinhalb Stunden ist nun das normale Make Up an der Reihe: Mit geübter Präzision trägt mittlerweile Trinnia Eyeliner und Lidschatten auf. Spätestens jetzt wird seine jahrelange Erfahrung mit Kosmetik ersichtlich, die er sich während sieben Jahren bei Mac Cosmetics angeeignet hat.

Auffallend ist, wie sehr sein gesamtes Leben von diesem Drang nach Verwandlung und Umgestaltung durchdrungen ist: Angefangen in der Herrenkonfektion im Detailhandel, über die Visagistenschule und langjährige Anstellung bei einem Kosmetikunternehmen, bis hin zu seiner aktuellen Anstellung als Visual Merchandiser bei C&A dreht sich sein gesamtes Berufsleben um diese Thematik. Abgerundet wird das Ganze – natürlich – durch seine monatliche Verwandlung in Ennia und seinen ehemaligen Kindheitstraum, als Pluto oder Goofy im Disneyland zu arbeiten.

«Ich habe einen Job, den ich liebe, wo ich so akzeptiert und geschätzt werde, wie ich bin, und daneben habe ich ein Hobby, das ich noch mehr liebe. Ich bin einfach rundum glücklich. Das Leben ist schön.» Mit einem verträumten Lächeln wird uns der ganze Wahrheitsgehalt seiner Aussage vor Augen geführt, und auch in mir macht sich sogleich ein beruhigend wohliges Gefühl breit.

Sisters for Misters

Als letzter Schritt werden die künstlichen Wimpern montiert, die lang und geschwungen wohl das markanteste Detail im weiblichen Gesicht darstellen. Auf die Frage hin, was ihm denn am meisten an Drag gefällt, hält Tristan mit der Wimpernzange inne und antwortet wie aus dem Kanonenrohr geschossen: «Alles!» Seine Augen leuchten und auf seinem Gesicht hat sich eine sichtbare Form von Begeisterung breitgemacht. «Für mich ist es Lebensfreude. Mode, Schminken, Verkleiden, im Mittelpunkt stehen.»

Umso schöner ist es darum, dass auch sein Umfeld mit ihm diese Freude teilen kann und die Reaktionen sowohl in seinem Freundes- und Familienkreis als auch bei der Arbeit sehr positiv ausfallen. Allgemein herrsche in der LGBT-Szene allerdings ein grösseres Verständnis für die Drag-Kultur. Ein besonderes Highlight war es auch, als Ennia zum ersten Mal mit weiteren Drag Queens in Kontakt gekommen ist und von Beginn an eine besondere Verbundenheit erfahren durfte. «Ich bin an diesem Abend nach Hause gekommen zu meinem Schatz und meinte: ‹Hey Honey, ich habe jetzt Schwestern!›.»

Die Vollendung

Bald zweieinhalb Stunden später nähert sich die Verwandlung ihrem Ende zu: Die blonde Perücke wird aufgesetzt, in Corsage, Strümpfe und ein eng anliegendes Schlauchkleid wird geschlüpft, Brüste werden montiert. Und dann steht sie vor uns: Ennia Face. Ihre Aura hat sich spürbar verändert; eine Verschiebung von ausgelassen, lebensfroh und ansteckend glücklich, hin zu mysteriös und geheimnisvoll hat sich abgespielt. Wir sind sprachlos. Mit Drag kann man wohl wirklich alles sein – eine wundervolle Form der Selbstdefinition.

Bilder Johannes Kagerer


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