Nicht einer ein Held

In den späten 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts trieb in New York ein Serienmörder sein Unwesen, der junge Frauen auf dem Heimweg abpasste, sie missbrauchte und tötete. Eine von ihnen war Kitty Genovese.

In einer eisigen Winternacht fand sie durch die Hand von Winston Moseley den Tod. Obwohl niemand die Polizei rief, ihr niemand zu Hilfe eilte, fanden sich später nicht weniger als 38 Zeugen, die aussagten, etwas Konkretes gesehen oder gehört zu haben. Der Fall erregte grosses Aufsehen, nicht zuletzt, weil in der Folge in der New York Times ein Artikel erschien, der das Untätigbleiben der Nachbarn an den Pranger stellte: «For more than half an hour thirty-eight respectable, law-abiding citizens in Queens watched a killer stalk and stab a woman (…) Twice the sound of their voices and the sudden glow of their bedroom lights interrupted him and frightened him off. Each time he returned, (…) Not one person telephoned the police during the assault; one witness called after the woman was dead.»

Diese Tat wurde von zwei Autoren als Stoff aufgegriffen, seit Herbst sind die Bücher als Übersetzungen erhältlich. Eines der Bücher stammt von Ryan David Jahn: «Ein Akt der Gewalt» (Originaltitel: Acts of Violence). Jahn entfernt sich darin sehr von der Originalvorlage und versucht, den gesichtslosen, untätigen Zeugen ein Gesicht zu geben, eine Geschichte um den Mord an Katarina Marino zu errichten. Ihre Schreie sind das Bindeglied zwischen den einzelnen Protagonisten, deren Schicksale in den Vordergrund rücken. Warum blieben sie untätig, obwohl sie wach gewesen wären, anwesend? Ihre Widrigkeiten waren in diesem Moment wichtiger als der Tod einer unbekannten Nachbarin.

«Der Tod der Kitty Genovese» (Originaltitel: Est-ce ainsi que les femmes meurent?) von Didier Decoin bleibt deutlich näher am originalen Stoff als sein englischer Verwandter. Er nennt das Opfer und den Mörder bei ihren richtigen Namen und beschreibt die Geschichte wie auch schon Jahn aus verschiedenen Perspektiven. Allerdings sind seine Schilderungen nicht so ausführlich wie die von Jahn. Zudem liegt der Fokus von Didier auf einem Haupterzähler, Nathan, der zwar mit seiner Frau Giulia Zeuge hätte sein können, zum Zeitpunkt der Tat aber nicht zuhause war. Neben diesem beschreibt er in der dritten Person, wie der Mörder sein Auto kauft, wie die Geliebte von Kitty sich nach der Todesnachricht fühlte und wie die Gerichtsverhandlung, die über das Schicksal von Moseley entscheiden sollte, ablief. Man darf als Leser also eine unschuldige Rolle einnehmen und dreht sich mit Nathan um die Frage, warum niemand der Nachbarn eingegriffen hat.

Auch in der Psychologie wurde nach einer Erklärung für dieses Phänomen gesucht. Das Geschehene ging als Bystander-Effekt oder auch Genovese-Syndrom in die Lehrbücher ein und wurde von John Darley und Bibb Latané in diversen Experimenten untersucht. Sie kamen zum Schluss, dass die Reaktionszeit beziehungsweise die Chance, dass überhaupt ein Eingreifen stattfindet, radikal abnimmt, je mehr (mutmassliche) Zeugen anwesend sind. Bei sechs mutmasslichen Zeugen retten in einem Versuch nur noch 31 Prozent die Person in Not. Ausschlaggebend für das Nichteingreifen ist sodann auch nicht die Persönlichkeit des einzelnen Individuums, sondern die Grösse des Publikums: Man kann die Verantwortung delegieren – «Bist du dir denn so sicher, dass du etwas unternommen hättest?»

Ein Akt der Gewalt
Autor: Ryan David Jahn
269 Seiten
Erschienen bei: Heyne Hardcore, 2011

Der Tod der Kitty Genovese
Autor: Didier Decoin
159 Seiten
Erschienen bei: Arche, 2011


Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*

*

*