Quo vadis, Fernsehen?

Seit gerade einmal 60 Jahren gibt es das Medium Fernsehen, und doch sehen viele Kritiker es bereits an seinem Ende. Eine Bestandsaufnahme.

«Ich nehme diesen Preis nicht an!» Vor etwas mehr als zwei Jahren hat das Fernseh-Urgestein Marcel Reich-Ranicki mit diesem Satz eine Debatte losgetreten, die bis heute nicht zur Ruhe kam. Er verweigerte die Annahme des Fernsehpreises aufgrund des niedrigen Niveaus der bei der damaligen Gala prämierten Formate.

Plötzlich diskutierte die gesamte Medienwelt eifrig über Qualität und Quoten und liess kein gutes Haar am TV-Programm des 21. Jahrhunderts. Wenn man vom Niedergang des Niveaus im Fernsehen redet, muss man jedoch stets unterscheiden zwischen schlecht gemacht und schlecht geschrieben. Wenn die Presse zum Beispiel über die vergangene «Wetten, dass …?»-Sendung berichtet, kennt man meistens den Inhalt, ohne den Artikel gelesen zu haben. Wer nicht wettert, ist nicht hochgeistig. Klar, die Zeiten dieses Formats sind vorbei, aber nichtsdestotrotz ist es eine Sendung, die unterhält und dabei zwar nicht besonders intellektuell, aber wenigstens nicht verblödet wirkt. Hier stopft sich keiner Kakerlaken in die Kehle (demnächst wieder bei RTL) oder treibt noch weit obskurere Sachen wie bei manchen ausländischen Fernsehanstalten (siehe Artikel «Fernes Fernsehen» (http://new.prisma-hsg.ch/heft)). Dass Thomas Gottschalk immer noch in drei Ländern parallel über den Bildschirm flimmert und allein in Deutschland zwischen 10 und 11 Millionen Zuschauer vor den Fernseher lockt, ist zudem ein untrügliches Zeichen für die Daseinsberechtigung des Formats. Es stellt eine der letzten Konstanten im deutschsprachigen Fernsehen dar und hat für das ZDF identitätsstiftenden Charakter.

Kreativitätsverluste

Andere Sender dagegen wollen immer häufiger etwas sein, was sie nicht sind. Statt die im grossen Paket erworbenen (amerikanischen und meist hervorragenden) Serien und Filme gesamthaft auszustrahlen, zeigt ProSieben lieber Hartz-IV-Familien beim Flaschensammeln und RTL ledige Bauern beim Balztanz. Warum läuft die erfolgreiche und beliebte Serie «Mad Men» auf ZDFneo, dem Abstellgleis des Mainzer Senders, dessen Existenz ungefähr so bekannt ist wie die des Stirnlappenbasilisks?

Warum strahlen deutsche Sender amerikanische Serien nicht auch im Originalton aus, wie es beim Schweizer Fernsehen seit langem üblich ist? Warum macht man etwas selbst schlechter (Doctor’s Diary), anstatt einfach nur das zu zeigen, was andere bereits gut gemacht haben (Grey’s Anatomy)? ORF1 und SF2 praktizieren dies seit längerem erfolgreich. Keine schwachen Reality-Formate, sondern überwiegend das, was im Ausland die Menschen bereits bewegt hat.

Niveauloses Fernsehen – endlich auch aus der Schweiz

Aber auch die schweizerische Fernsehlandschaft hat nun endlich ihren Titten-Tratsch-und-Trash-Sender bekommen. Mit 3+ hat sich zum ersten Mal seit langer Zeit ein Privatsender überregional etablieren können. Und das ist auch gut so, denn was in Deutschland seit 30 Jahren existiert, ist auch für das Fernsehangebot in der Schweiz grundsätzlich eine Möglichkeit zur Bereicherung der Vielfalt. Doch warum muss man in die exakt gleiche Kerbe schlagen wie RTL, ProSieben und Co.? Mit «Jung, wild & sexy» wurde eine Sendung geschaffen, die sich zwar grosser Beliebtheit erfreut, aber ungefähr das diametrale Gegenteil von dem darstellt, was gemeinhin als niveauvolles Fernsehen betrachtet wird.

Aber auch hier gilt eben das fundamentalste Gesetz des Marktes, dass die Nachfrage nun mal das Angebot bestimmt. Zudem hatte 3+ eigentlich gar keine andere Möglichkeit, um sich von den seriösen und gehobenen Inhalten der SF-Sender abzuheben.

Kollektive Volksverdummung

Einen riesigen neuen Markt bildet das so genannte Scripted-Reality-Fernsehen. In Doku-Soaps, einer zumeist bedauernswert schlechten Verknüpfung von Dokumentation und Seifenoper, werden die Medienkonsumenten kollektiv hinters Licht geführt. Dass eine Ehefrau die aus dem Kühlschrank zusammengekratzten Essensreste ihrem grenzdebilen Ehemann als «Bolognese nach altem Familienrezept» vom Wanst schlabbert, kommt selbst in den schlechtesten Familien NICHT vor.

Ein absolutes Paradebeispiel ist auch das Dschungelcamp von RTL. Auch wenn der Sender nach wie vor gerne das Gegenteil behauptet: Gedreht wird nicht etwa im Urwald, sondern auf einer umgebauten Farm mit eingespielten Dschungelgeräuschen. Wenigstens Australien stimmt als Ortsangabe. Dramatisch ist die allgemeine Entwicklung auch innerhalb der Doku-Soaps deshalb, weil man, um nicht langweilig zu werden, seit langem das Mittel der Steigerung verwendet. Ein herkömmlicher Streit etwa, wie er in normalen Familien vorkommt, ist schon lange nicht mehr genug. Formate wie beispielsweise «Frauentausch» leben von tränenreichen Dramas und «echten» Tragödien.

Um die hitzigen Konflikte überhaupt entstehen zu lassen, wird seitens der Produzenten eine Menge Aufwand betrieben. Dies beginnt bei der bewussten Auswahl völlig unterschiedlicher Familien und reicht bis zum so genannten «Realisator». Als eine Art «Regisseur der Realität» sorgt er für den nötigen Emotionsgehalt und damit Unterhaltungswert der Sendung. Und so werden die Szenen am Set so lange wiederholt, bis sie den Vorstellungen des Realisators entsprechen. Dies geht oft auch zu Lasten der Darsteller, die einerseits der Art des Drehs nicht gewachsen sind, im Nachhinein aber häufig auch ein Problem mit der verfälschten Realität ihres Familienlebens haben, an dem sich das allabendliche Publikum bei der Ausstrahlung ergötzt. Auch Klagen auf Grundlage des Artikels 1 des deutschen Grundgesetzes («Die Würde des Menschen ist unantastbar») wurden nicht selten schon eingereicht – ohne Erfolg; die Verträge, welche zwischen den Darstellern und dem Sender geschlossen wurden, schliessen die Geltendmachung von Rechten an dem Material völlig aus.

Nicht nur der Inhalt selbst, auch die stilistischen Mittel einer Sendung sind immer öfter ein bewusster Betrug am Medienkonsumenten: Eine in letzter Zeit immer beliebtere Quelle scheinbar brisanten Materials bietet die so genannte versteckte Kamera. Sie wurde als ein Stilmittel entdeckt, das es erlaubt, die Zuschauer auf eine völlig andere Art zu fesseln und mitzureissen. Es eröffnet die Möglichkeit, «ungesehen» und live dabei zu sein, während der Kameramann wie ein zweiter James Bond undercover ermittelt. Dabei ist es bisweilen völlig egal, was dabei dokumentiert wird: sei es die Unfreundlichkeit von Currywurst-Verkäufern in Hamburg, verdreckte Hotelzimmer auf Malle oder der Taschendieb in Barcelona. Hauptsache, das Bild wird hin und wieder etwas unscharf, ist auf Hüfthöhe gefilmt und verwackelt in scheinbar actionreichen Situationen. Und schon ist wieder ein Medienbeitrag entstanden, in welchem man eigentlich völlig unwichtige Themen, die nicht zuletzt meistens ohnehin einen sehr geringen Realitätsbezug aufweisen, interessant in Szene gesetzt hat.

Die Verantwortlichen und die Einschaltquote

Wer aber ist verantwortlich für die 24 Stunden Unsinn, die uns so mancher Sender zumutet? Wie konnte das Fernsehen zu einem Markt, grösstenteils dominiert von volksverdummenden Formaten und niveaulosen Beiträgen, werden? Im Prinzip sollte man anführen, dass wir selbst die Verantwortlichen sind – wie jeder andere Markt handelt es sich auch beim Fernsehen um das Prinzip aus Angebot und Nachfrage: Je mehr Kunden einschalten, umso teurer können Werbeplätze vergeben werden, umso mehr Geld klingelt in den Kassen. Das Geheimnis liegt folglich in den Einschaltquoten und die bestimmen wir selbst. Interessant ist allerdings die Frage, wie eine solche Quote ermittelt wird: Wie viele Leute tatsächlich eingeschaltet haben, erfährt niemand. Lediglich 5640 Testhaushalte mit rund 13000 Bewohnern sind an der Quotenzählung beteiligt. Beauftragt von der Arbeitsgemeinschaft für Fernsehforschung (AGF) ermittelt die Gesellschaft für Konsumforschung (GFK) den Anteil der Einschaltungen in besagten Haushalten und rechnet proportional daraus die Zahl der gesamten Zuschauerzahl hoch. Was die über 70 Millionen weiteren Zuschauer tatsächlich machen, interessiert gelinde gesagt kein Schwein. Nach Angaben der AFG sind die angeschlossenen Haushalte zwar repräsentativ und die Auswahl folgte auch einigen Richtlinien, aber dennoch ist es absurd, dass 0,02 Prozent der Zuschauer entscheiden, was wir alle zu sehen bekommen. Eine Sendung wird so rigoros und möglicherweise viel zu schnell abgesetzt, wenn sich das Interesse, warum auch immer, in den wenigen Testhaushalten eher zurückhält – obwohl das neue Sendungsformat unter Umständen durchaus Anklang in der Bevölkerung finden und sich etablieren würde. Ist es denn beispielsweise ausgeschlossen, dass sich der Geschmack der Testhaushalte ändert und mit ihm auch das Fernsehen, ohne dass diese Änderung gewollt und repräsentativ ist? Umgekehrt kann ein Paradigmenwechsel im Programm dadurch verschleppt und verhindert werden, dass einzelne Haushalte vielleicht gerne an den alten Formaten festhalten wollen.

Ein Ausblick

Vielleicht aber ist es doch gar nicht so schwer, wie unsere Befürchtungen uns glauben lassen, das Programm zu reformieren. Durch die wachsende Bedeutung des Internets beispielsweise könnte ein solcher Wandel verursacht werden. Warum soll ich mir die «Reality» nur anschauen, wenn ich im Web 2.0 aktiv daran teilnehmen, sie sogar mitgestalten kann? Gerade die Privatsender werden also gezwungen sein, neue Wege zu gehen, um die Menschen am Bildschirm zu halten. Vielleicht führen diese ja genau dorthin, wo das Fernsehen vor über einem halben Jahrhundert einmal angefangen hat: zu einfacher und guter Unterhaltung. Es ist also sicherlich noch nicht alles im Argen beim deutschsprachigen Fernsehen.

Wir können nur hoffen, dass dieses interessante und vielseitige Medium nicht an sich selbst zu Grunde geht.


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