Sollten wir mehr arbeiten?

Pro: Hohe Löhne, tiefe Arbeitslosigkeit – um diese Formel beneidet uns die Welt. Die Grundlage der Schweizer Erfolgsgeschichte ist das calvinistische Arbeitsethos.

In der politischen Diskussion wird die Schweiz immer wieder kleingeredet. Doch was unser kleines Land eigentlich leistet, ist nicht zu unterschätzen. Die Schweiz weist die beste Performance aus: den stabilsten Arbeitsfrieden, die höchste soziale Stabilität, die niedrigste Verschuldung und die tiefste Arbeitslosigkeit.

Dies führt uns zur Fundamentalfrage, warum dem so ist. Die simple Erklärung dafür: unsere protestantische Arbeitsethik, eine der Errungenschaften fortschrittlichen Denkens im 18. und 19. Jahrhundert. Ihr gemäss ist Arbeit ein Gerüst, welches das Leben strukturiert. Arbeit wird nicht als Last empfunden. Im Gegenteil, sie ist sinnstiftend. Nur wer arbeitet, führt ein erfülltes Leben. Warum? Arbeit bringt nicht nur Geld, Sicherheit und soziale Integration, Arbeit macht den Menschen nützlich. Der Wohlstand unseres Landes ist das Ergebnis unser aller eigenen Bemühungen. Die Arbeit ist der zentrale Dreh- und Angelpunkt unserer Gesellschaft. Wir sind ein kleines, rohstoffarmes Land, das nur durch Fleiss und Innovationen Grosses vollbracht hat, unabhängig geworden und (noch) geblieben ist.

Geradezu grotesk muten deshalb die Forderungen der Linksnostalgiker nach weniger Arbeit und mehr Ferien an. Sie argumentieren mit der griechischen Illusion, dass trotz weniger Arbeit mehr Wohlstand rausspringt. Dabei kann sich die Schweiz ihr Lohnniveau doch nur dank leistungsbereiter Arbeitnehmer erlauben. Mehr Freizeit, mehr Gesamtarbeitsverträge und mehr Mindestlöhne verteuern die Arbeit und senken die Produktivität – dies zum Schaden der Angestellten. Die Schweiz boomt, weil sie auf Beschäftigung und Arbeit setzt statt auf soziale Hängematte. Dennoch lassen sich die Linksnostalgiker inspirieren von den Praktiken aus dem EU-Raum – obwohl doch offensichtlich ist, dass der wirtschaftliche Krebsgang der südeuropäischen Länder vor allem eine Folge der sozialistischen Politik ist, welche die Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden gesenkt hat.

Zugegeben: Es sind nicht die unzähligen Kampfansagen an das Erfolgsmodell Schweiz, die mich stören. Diese haben mittlerweile Traditionsstatus erhalten. Nein. Es ist vie mehr die Tatsache, dass die Forderungen an den Realitäten vorbeizielen: Druck, Kadenz und Geschwindigkeit im globalen Kontext haben enorm zugenommen. Bildung wird anspruchsvoller. Hohe intellektuelle Fähigkeiten sind gefragt. Einfache Arbeiten werden wegrationalisiert. Das Gebot der Stunde lautet deshalb nicht «Arbeitet weniger!» – das führt ins absolute Leere. Nein, das Profil der Zukunft verlangt: «Mehr arbeiten. Härter arbeiten. Besser arbeiten.» Einverstanden: Viel Arbeit allein garantiert nicht unbedingt die Konkurrenzfähigkeit und den Wohlstand eines Landes. Aber der Schweiz geht es nicht nur wegen der Präsenzzeit am Arbeitsplatz so gut, sondern auch wegen der Berufsethik unserer Bürgerinnen und Bürger, der Loyalität und der Tradition, hervorragende Arbeit zu leisten – deshalb nimmt unser Land einen Spitzenplatz in der Weltwirtschaft ein.

Nur weil wir uns verinnerlicht haben, mit dem Status quo nie zufrieden zu sein, uns ständig verbessern zu wollen, mit eigener Kraft und auf eigenes Risiko, sind wir stark geworden. Bleiben wir dieser Geisteshaltung weiterhin treu, haben wir uns fit getrimmt für die globale Herausforderung.

 Matthias Müller

Contra: Weniger zu arbeiten würde uns allen gut tun. Ein Plädoyer für mehr Pausen.

In der Schweiz klopfen wir uns gerne auf die Schultern, prahlen damit, wie viel mehr als 42 Stunden wir wieder gearbeitet haben und wie faul man «ennet em Röschtigrabe» und erst recht hinter der Grenze ist. Doch das Bild der Produktivitätsinsel Schweiz ist grundfalsch: Die Produktivität pro gearbeitete Stunde ist in der Eurozone beispielsweise fast fünf Prozent höher als in der Schweiz. Und für viele ein Schlag ins Gesicht: Die oft als arbeitsmüde verschrienen Franzosen erwirtschaften pro Arbeitsstunde 18 Prozent mehr Wohlstand.

Ist ja auch klar, denn wer nur 35 Stunden arbeiten muss, hat pro Stunde mehr Energie als jemand, der sich 42 Stunden konzentrieren muss. Es ist aber definitiv so: Wir machen’s mit der Quantität, nicht mit der Qualität. Und das ist leider ein Irrweg.

Denn im globalen Wettbewerb kann man entweder versuchen, das Rad so schnell und so lange zu drehen wie nur möglich. Doch bei der millionenfachen Konkurrenz aus China und Indien dürfte sich schnell ein Arbeitstier finden lassen, das noch einen etwas längeren Atem hat und noch etwas schneller spurtet. Die andere Möglichkeit ist, die Spielregeln zu ändern.

Deshalb brauchen wir viel mehr Pausen! Sie befreien den Geist, sie machen kreativ und führen dazu, dass wir die Herausforderungen der heutigen Arbeitswelt produktiver meistern können als ohne. Nicht umsonst gewährt uns die Uni nach 45 Minuten Vorlesung oder Übung eine Verschnaufpause von einer Viertelstunde. Doch es kommt noch besser: Ausgedehnte Pausen machen nicht nur produktiver, sondern auch glücklicher.

Wenn man endlich aufhören würde, den Wohlstand einer Gesellschaft anhand von drei Buchstaben zu messen und das BIP als das Nonplusultra unseres Wirtschaftens zu betrachten, würde deutlicher, dass die Pause nicht eine Verschleuderung von Ressourcen ist, sondern erst möglich macht, diese nachhaltig zu nutzen.

Menschen sind nachweislich glücklicher, wenn sie mehr Zeit mit ihren Familien oder in der Natur verbringen – Zeit, in der sie sich jetzt ungeliebten Kollegen, Powerpoint und Kalkulationen widmen. Umfragen zeigen immer wieder, dass in Ländern, in denen viele glückliche Menschen leben und (wenig) arbeiten, die Anzahl Arbeitsstunden relativ tief ist. Arbeit ist kein Selbstzweck. Deshalb sollten wir aufhören, die Arbeit als solche für sakrosankt zu erklären – das Kapitel «Arbeit macht frei» landete schliesslich zu Recht auf der Müllhalde der Geschichte.

Menschen lassen sich nicht mehr auspressen wie eine Zitrone. Sie wollen innovative Lösungen für kreative Jobs. Was wir unbedingt tun sollten, ist diese mit intelligenten Investitionen so produktiv wie möglich zu machen. In der Schweiz zeigt sich ebenfalls eine zunehmende Begeisterung für weniger Arbeit, auch bei Männern: Vor 15 Jahren arbeitete noch nicht einmal jeder zwölfte Mann Teilzeit, heute ist es immerhin jeder siebte. Sabbaticals und die Möglichkeit zu unbezahltem Urlaub für längere Reisen wird bald zum Standard für fortschrittliche Arbeitsbedingungen gehören – zum Glück!

Gabriel Züllig


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