Stil und Gehorsam

Man hat ihn, oder man hat ihn nicht – den einen Stil, welcher Erfolg garantiert, einzigartig macht oder Elite-Zugehörigkeit verspricht. Trotzdem investieren wir in unsere Unverwechselbarkeit oder in gewinnbringende Stilratgeber, um doch nicht auf der falschen Seite dieser Gleichung zu landen.

Das Bemühen der Ellenbeuge oder der Hände zum Schnäuzen galt im Mittelalter als die genau richtige Verhaltensweise, sich seines Naseninhalts zu entledigen. Erst langsam etablierte sich eine neue Mode: Man definierte die linke Hand zum Schnäuzen und die Rechte zum Essen – aus Rücksichtnahme den anderen Tischgästen gegenüber. Bei den Snobs und Neureichen der Renaissance verzierten Tücher den Gürtel, mit denen man sich zum ersten Mal stilvoll die Nase putzen konnte. Dieses Verhalten verbreitete sich dann in den unteren Gesellschaftsschichten und ist ein frühes Beispiel dafür, warum Stil auch heute noch als Elitephänomen oder Geldfrage interpretiert wird – bestand Stil doch lange Zeit in der Imitation der Moden der Oberen. Überreste dieser Anlehnung zeigen sich bei einem Blick auf die Bestsellerlisten: So scheinen die Verkaufszahlen eines Stilratgebers immer noch mit der Länge des Adelstitels oder zumindest Doppelnamens auf dem Buchrücken zu korrelieren.

Dabei liegt der Ursprung von Stil häufig in der Vermeidung von Unannehmlichkeiten für das Gegenüber. Understatement bedeutet auch im Falle des Schnäuzens Rücksichtnahme, und diese wurde zuerst von der Noblesse zur Notwendigkeit erklärt. Gentlemen erkannte man daran, dass sie vor einer Frau die Gaststätte betraten – und sie somit vor torkelnden Trunkenbolden schützten. Ähnlich zeugt es heute von Stil, wenn das Handy nicht auf dem Tisch liegt und der Mensch nicht mit der Elektronik um die Gunst des Gesprächspartners buhlen muss.

«Der ästhetische Lösungsversuch des grossen Lebensproblems»

Für Soziologen wie Georg Simmel (1858–1918) kann man die Stilfrage aber bei Weitem nicht nur mit blossem Nachahmen oder Rücksichtnahme beantworten. Sie sei der «ästhetische Lösungsversuch des grossen Lebensproblems». Eines Lebensproblems, das zwischen Identitätsfindung und sozialer Anpassung im Naturzustand allgemeiner Unsicherheit verortet ist. Der Mensch ist ein hochsensibles Wesen und registriert natürlich ganz genau, wie er auf andere wirkt. Das geht über die oben genannten Manieren hinaus: Wer von uns hat sich nicht schon einmal dabei ertappt, seine Kleidung, Sprache oder sein Verhalten geringfügig zu modifizieren, um eine bestimmte Wirkung auf ein Publikum zu erzielen. «Hey, das passt aber gut zu dir!» kann eine Reaktion der kritischen Öffentlichkeit auf die von uns erzeugte Aussenwirkung sein. Genauso kann es aber auch zur Nichtbeachtung kommen, wenn wir uns andauernd völlig daneben benehmen.

Wir sind nun mal soziale Wesen, und das menschliche Ordnungssystem besitzt, wie jedes andere auch, feste Codes und Normen, nach denen es funktioniert. Da wir Teil der Gesellschaft sein wollen, gehorchen wir dem allgemeinen Empfinden über guten Stil im menschlichen Miteinander. Wir passen uns einer Anstandsordnung an und werden im Gegenzug dafür akzeptiert. Ein «Hey, das passt aber gut zu dir!» heisst oft nicht viel mehr als «Hey, das passt aber gut zu uns». Dieser Automatismus bietet Sicherheit – und genau hier setzt die gesamte «Mit Stil zum Erfolg»-Literatur an.

Die Sache mit dem kleinen Finger

Auf die Frage, was Stil denn sei, konnte mir eine Kollegin nur eines antworten: «Ich weiss ganz genau, was ich nicht stilvoll finde.» Ohne es zu wissen, hatte sie mit dieser Antwort eine der Kernaussagen der literarischen Stilratgeber getroffen: No-gos. In solcher Literatur herrscht ein allgemeines Überangebot an Formeln und Tabus, Safe Conversation Topics und endlosen Listen mit Verboten und Fauxpas.

Vollkommen daneben im gesellschaftlichen Kontext sind laut dem NZZ-Experten Jeroen van Rooijen zum Beispiel Krawatten mit Verzierungen aus dem bunten Reich der Flora und Fauna. Auch drei offene Knöpfe am Herrenhemd seien nicht vorteilhaft, schliesslich wolle man ja nicht mit David Hasselhoff verwechselt werden. Bei den Damen hingegen solle man bei drei offenen Blusenknöpfen und einem fehlenden Unterhemd eine mögliche Namensänderung, beispielsweise in Tiffany oder Chantal, in Erwägung ziehen. Es gilt aber nicht nur Untiefen in Bezug auf das Äussere zu umgehen. Der HSG-Alumnus und Philosoph Philipp Tengler rät beispielsweise dringend, beim Small Talk von «PRIKK»-Themen Abstand zu nehmen: Politik, Religion, Implantate, Krankheiten oder Karriere seien demnach Mittel für den sozialen Selbstmord. Obwohl man sich bei der beschränkten Themenauswahl schon wieder fragen muss, für wen solche Stilregeln geschrieben, beziehungsweise an wen sie verkauft werden.

Aber was heute noch so sicher erscheint, kann morgen schon als gestrig gelten. Kenner des Knigge negieren heute sogar frühere Eliteverhalten: Die Sache mit dem kleinen abgespreizten Finger gilt im 21. Jahrhundert als mittelschwerer Fauxpas. Auch wenn uns die Werbung für Chips mit Essiggeschmack glauben machen will, dass jeder Engländer auf diese abgewinkelte Eitelkeit bestehen würde. Ebenso lag es in den Adelshäusern des Barock im Trend, sich möglichst weit von der arbeitenden Bauernschicht abzugrenzen und seinen Wohlstand zu zeigen. Man trug Eisenkorsetts, meterhohe Frisuren und war somit bewegungs- und arbeitsunfähig. Die feine Gesellschaft konnte es sich auch leisten, den Nagel des kleinen Fingers sehr viel länger als den der anderen wachsen zu lassen. Beim Tee konnte man mit dem exponierten kleinen Finger seinen Status dann noch viel besser zur Schau tragen. Dieses Statussymbol haben wir heute beerdigt, beziehungsweise überwiegend kurz manikürt. Kollegen von Django Reinhardt oder Jimi Hendrix könnten ja noch mal drüber nachdenken.

Der Stil ist unsere Waffe im Ringen um Identität

Aber wer Stil hat, der folgt nicht nur Konventionen oder schwimmt mit dem gesellschaftlichen Mainstream. Natürlich wünschen wir uns, gesellschaftlich akzeptiert zu werden; trotzdem wollen wir keinesfalls in einer grauen Masse untergehen. Wir bewundern Menschen für ihren Stil, der sie in irgendeiner Art und Weise einzigartig macht. Nehmen wir die Filmdiven Rita Hayworth oder Marilyn Monroe: In der Karnevalssaison braucht es kaum mehr als die richtigen Wellen im Haar und die richtige Lippenstift-Farbe, um an den einzigartigen Stil dieser Damen zu erinnern. Marlon Brando hat genauso mit gesellschaftlichen Konventionen gebrochen und seinen Oberkörper nur mit einem zeitgemässen Unterhemd bekleidet. Ein paar Jahrzehnte später war das so genannte Unterhemd als T-Shirt ein fester Bestandteil der Gesellschaft. Selbst der gefallene Baron zu Guttenberg hat sich rein äusserlich und durch die Verkörperung von Integrität in Berlin lange Zeit erfolgreich von der Classe politique abgegrenzt. Man spricht bei all den Beispielen auch vom charakteristischen Stil Friedrich Schillers oder Giuseppe Verdis, weil diese etwas geschaffen haben, das sich signifikant von allem bisher Dagewesenen unterschieden hat.

Diese Abgrenzung fällt aber zunehmend schwer. In der Mode wechseln die Trends mittlerweile so häufig, dass die Durchsetzung eines einzigartigen Stils immer unwahrscheinlicher wird. Gelingt es uns aber doch, einen Stil zu etablieren, pflegen wir genau dann unsere persönlichen Eigenheiten abzulegen, wenn diese Abweichung zur Normalität wird: wenn auf einmal alle eine bestimmte Band hören oder Preppy-Style allgegenwärtig ist. Wir suchen nach einem Stil, der uns beständig abgrenzt und Anerkennung verschafft. Die Betriebswirtschaftslehre nennt diesen Hang zur Individualisierung einen Megatrend unserer Zeit. Der Mensch will gestalten, kreativ sein und seine eigenen Regeln aufstellen. Selbst wenn diese «Mein Aussehen ist mir egal» und «Ich hasse alle Menschen» lauten.

Der Kapitalismus hat schön und hässlich vernichtet

So genau bestimmbar, wie die Ausschlussregel – entweder man ist glücklicher Besitzer oder eben nicht – suggerieren will, ist Stil also keinesfalls. Johannes Gaulke hat sich im letzten Jahrhundert an einem ökonomischen Erklärungsansatz für das Phänomen versucht. Seiner Meinung nach hat die Industrialisierung die Werte «schön» und «hässlich» vernichtet und ist der Kapitalismus schuld an der Stillosigkeit unserer Epoche. Moderne Herstellungsverfahren wie die Massenproduktion führten zu einer Vereinheitlichung der Güter und des Stils, welcher heute höchstens eine Sammlung von Konsumentscheidungen darstellt und nicht mehr als Ausdruck der persönlichen Authentizität gilt.

Kapital möchte angelegt und der Volkswirtschaft zugeführt werden – der HSGlerIn rationalste Shopping-Ausrede – und laut Gaulke das Todesurteil für die Stilgesellschaft. Auf das banale Klischee, wir HSG-Studenten würden ohnehin nach dem zweiten Semester alle gleich aussehen, sei an dieser Stelle nicht einmal eingegangen. Pragmatisch, wie wir sind, lässt es sich häufig nicht vermeiden, dass wir Vielfalt eintauschen, um uns aneinander zu orientieren. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die freie Marktwirtschaft, bildhaft in den verschiedenen Kleidungs- und Konsummarken, die sie hervorbringt, sich genau dieses Phänomens bedient: Denn was gestern noch dein Stil war, kann heute schon auch meiner sein. Und übermorgen kauf ich mir wieder neue Stilobjekte. Dabei die richtige Prise Authentizität dabei zu finden, bleibt eine Lebensaufgabe.

Eine Lebensaufgabe, der viele mit einfachen Antworten zu begegnen versuchen. Ein Schuhgeschäft in St. Gallen wirbt beispielsweise mit der stilistischen Relativitätstheorie im Schaufenster: «Für Albert Einstein ist alles relativ. Und alles andere eine Frage des Stils.» Wir haben gesehen, dass es so simpel nicht ist. Stil ist eine ständige Auseinandersetzung, ein ständiges Abwägen und Entscheiden und keine Ausschlussregel. Täglich treffen wir Entscheidungen oder zeigen in Haltung, Aussehen und Umgang unseren individuellen Stil und unsere Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Und diese Mischung, so bestätigt auch Sören Kierkegaard, ist ganz sicher unverwechselbar: «Denn das Grosse ist nicht, dass einer dies oder jenes ist, sondern dass er es selbst ist; und das kann jeder Mensch sein, wenn er will.»


1 Comment

  • Oliver

    Wenn ich solche Berichte lese, schaudert es mich jedes mal!
    Was ist “Stil” und wer bestimmt das?
    Es gibt nicht “den Stil”. Auch ein Knigge ist nur ein subjektiver “Ratgeber”!
    und solange es Menschen gibt die mit so etwas Geld verdienen und sich in ihrer Haupttätigkeit damit auseinandersetzen haben wir anscheinend noch nicht genug Problem auf der Welt!

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