Südafrika – Rainbow Nation

Der Flug nach Südafrika dauert mindestens elf Stunden. Dennoch scheint es das Land auf dem afrikanischen Kontinent zu sein, welches Europa am nächsten ist. Dass es dennoch krass anders ist, zeigen diese zwei Erfahrungsberichte.

Raffael:

Apartheid, Rassismus, Kriminalität. Das sind Überbleibsel aus der Geschichte Südafrikas. Worte, Vorurteile, Vorwürfe, welche am heutigen Südafrika kleben. Korruption, Armut, Hass. Dinge, vor denen ich Respekt hatte, bevor mein Austauschjahr in Durban an Südafrikas Ostküste begann. Dinge, nach denen man mich heute noch fragt, wenn ich von meinen Erfahrungen erzähle.

Ja, ich habe Rassismus gesehen, ja, ich habe Gewalt erlebt, ja, ich war Opfer eines Verbrechens. Aber es sind nicht diese Vorkommnisse, Tatsachen, Erinnerungen, die ich heute mit Südafrika und mit meinem Austauschjahr verbinde. Südafrika mag ein Land der Diskriminierung, der Vorurteile, der ungleichen Chancen sein, doch es ist auch ein Land der Liebe, der Offenheit, der Vielfalt. Zwei Gastfamilien empfingen mich mit offenen Armen. Meine Schulklasse begrüsste mich klatschend, als ich das erste Mal in der mir ungewohnten Uniform durch die Tür trat. Meine Freunde akzeptierten mich vorbehaltlos, mit all meinen Stärken und Schwächen, mit weisser Hautfarbe und Schweizer Pass. Für ein Jahr war ich ein Teil von ihnen.

Ich lernte zu sprechen wie sie, ihr Essen zu mögen, ihre Sportarten zu praktizieren. Ich lernte, «wir» statt «ihr» zu sagen, zu akzeptieren und zu verstehen. Für ein Jahr war ich ein Teil des Regenbogens, den das moderne Südafrika darstellt.

Es ist offensichtlich, dass es in einem Land solcher Vielfalt – vier Ethnien, elf Sprachen, drei Hauptstädte, kulturelle Einflüsse dreier Kontinente – Spannungen und Konflikte gibt. Emanzipation und das traditionelle afrikanische Bild der Frau lassen sich schlecht vereinbaren, ebenso wenig der Hinduismus und der europäische Monotheismus. Rugby war schon immer ein Spiel der Weissen, seitdem es die Engländer nach Südafrika gebracht hatten. Dafür spielen mehr Schwarze Fussball, während Inder von Cricket begeistert sind. Die derzeitige Regierung versucht, solchen Unterschieden durch Gesetze entgegenzuwirken. Dazu legt sie fest, wie viele Spieler in der Startaufstellung, Manager in der Geschäftsführung und schliesslich Angestellte in der Unternehmung schwarz, weiss oder «coloured» sein müssen. Dabei braucht es dies oftmals gar nicht.

Was Südafrika braucht, ist Akzeptanz. So wie die sieben Farben nur gemeinsam den Regenbogen ausmachen, ist Südafrikas Existenz auf alle Facetten des Landes, der Bevölkerung und der Kulturen angewiesen. Nur so wird der Regenbogen andauern.

Sarah:

Ich muss sagen, dass ich vor meiner Zeit in Südafrika nur eine sehr abstrakte und vage Vorstellung von Rassismus und Gewalt hatte. «Coloureds» wie meine Gastfamilie machen etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus, sie sind sowohl Schwarze als auch Weisse, weil sie irgendwo bei ihren Vorfahren beides haben. Man könnte meinen, dass diese Menschen deshalb Verständnis für beide Seiten haben müssen – aber dies trifft nicht zu. Schwarze werden von den «Coloureds» auch «Darkies» genannt oder mit sehr abschätzigem Unterton auch «Nik-naks». Selbst nennen sich die «Coloureds» auch «Bushie».

Es wird grossen Wert darauf gelegt, dass jede und jeder die korrekte Bezeichnung erhält, denn so wird auf den «Wert» der Person hingewiesen – gleichzeitig kombiniert mit dem Tonfall, ist das immer eine eindeutige Aussage. Es gibt auch «ntsa Darkies», das sind «gute Schwarze», und es gibt «schlechte Bushies». Es ist nicht so, dass alle Schwarzen partout «schlecht» sind, doch es gilt diese Vermutung. Es liegt am Einzelnen, das Gegenüber vom Gegenteil zu überzeugen.

Ich war ein «Bushie», weil ich mit ihnen lebte; der Zusammenhalt war enorm. In Johannesburg muss man – um überlebensfähig zu sein – einer Gruppe zugehören. Das Kollektiv bietet Schutz gegen die anderen Kollektive. Kollektive können sich nach Sprache, Hautfarbe, Stamm, Herkunftsgebiet, -stadt oder -viertel unterscheiden. (Verwechsle ja nie einen Zutu mit einem Zulu oder einen Cape Town Xhosa mit einem Johannesburg Xhosa!)

Für einige an der Schule war ich die Europäerin, die keine Sorgen kennt und alles hat. Und da in Europa alles im Überfluss vorhanden ist, kann man ja problemlos auch einmal etwas entwenden. Obwohl mir so einiges abhanden kam, waren die Leute trotzdem sehr freundlich und mir gegenüber offen. Für andere war ich ein «Bushie» und das ist aufgrund des «Kollektivsystems» für einige wenige die Gelegenheit, eine «offene Rechnung» mit einem Bushie zu begleichen. So wurde ich in kleinere Sippenkonflikte verwickelt, von denen ich erst im Nachhinein erfuhr. Offenbar hatte ich mich ein paar Mal zu oft mit einigen Leuten abgegeben, die einem Kollektiv angehörten, welches sich mit meinen Gastbrüdern und deren Kollegen nicht so gut verstand. Die Folge war: eine Schiesserei nach der Schule zwischen den zwei Sippen. Davon und von den vier Verletzten und dem einen Toten erfuhr ich aber erst zwei Monate später.

Mit der Anwesenheit nahm man es da auch nicht so genau. Mal waren in meiner Klasse 50 Menschen, mal nur noch 15. Die Gründe waren unterschiedlichster Natur: Der eine musste sporadisch «Geld verdienen» (die lukrativsten Methoden waren der Handel mit Waffen aller Art, mit Computer-Teilen, Autos, gewissen Substanzen – auch Drogen genannt – und v. a. Hijacking, also Autos an Ampeln abwarten und überfallen). Einige Mädchen mussten sich nach den Ferien um ihre (eigenen) neugeborenen Kinder kümmern, andere waren erkrankt oder an Krankheit gestorben und wieder andere hatten die Mutter verloren und traten an deren Stelle, das heisst, sie waren für den Haushalt zuständig sowie für ihre Geschwister – bis zu zehn an der Zahl –, viele übernahmen auch direkt den Ehefraustatus.

Für andere Kommilitonen war ich einfach Sarah: eine neue Schülerin, das neue Mitglied in der Basketballmannschaft oder die neue Leichtathletin. Auch war ich als Familienmitglied vollkommen akzeptiert: Alle Sicherheitsmassnahmen wurden mir genaustens beigebracht. Wenn ich am Abend ausnahmsweise mit meinen Gastbrüdern weggehen durfte, waren Mummy und Daddy stets wach, bis wir zurückkamen. Ich hatte meinen eigenen kleinen Trupp von Leibwächtern, bestehend aus meinen Gastbrüdern und deren (und somit auch meinen) engsten Freunden. Wenn die Verwandtschaft sich bei uns zuhause traf, war ich zusammen mit Mummy und meinen kleinen Cousinen um das leibliche Wohl der Gäste bemüht: als Master of Tea and Coffee.


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