Tote ohne Begräbnis

Das Studententheater präsentiert seine neueste Produktion: Fünf französische Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung. Sie warten darauf, zwecks Verrats ihres Anführers gefoltert zu werden.

Frankreich, 1944: Ich bin François und ich werde sterben. Dies ist meine Gewissheit. Nun gut, wir alle sterben, ich lebe aber in der Gewissheit, in der Gefangenschaft gefoltert, gemartert und gelyncht zu werden. Ich sterbe, weil man mir idiotische Befehle gegeben hat, und mein Tod nützt niemandem was, auch nicht der Sache. Es wird andere geben, die Sache wird andere finden.

Seit nunmehr acht Tagen bin ich Gefangener, eingesperrt im Dachboden einer Schule. Durch eine Luke fällt Licht. Canoris und Sorbier sitzen, der eine auf einem Koffer, der andere auf einem alten Hocker.

Lucie sitzt auf dem Herd. Wir liegen in unseren eigenen Fäkalien, die Handgelenke aufgeraut von den Handschellen und die Knöchel zertrümmert. Immerwährend warten wir auf den Beginn der eigentlichen Folter. Werde ich schreien? Werde ich reden?

Auszug aus dem Stück:

Sorbier: Ich denke daran, wie die Kleine schrie. Die Kleine vom Bauernhof. Ich habe sie schreien hören, als sie uns abführten. Das Feuer war schon auf der Treppe. Es sind schon viele gestorben, Kinder und Frauen. Aber ich habe sie nicht sterben hören. Bei der Kleinen ist es, als ob sie noch immer schreien würde. Ich konnte dieses Schreien nicht für mich behalten.

Lucie: Sie war dreizehn. Unsertwegen ist sie gestorben.

Sorbier: Sie sind alle unsertwegen gestorben.

Canoris (zu François): Du siehst, es ist besser, nicht zu reden.

François: Was denn, wir werden ja auch nicht mehr lange machen. Nachher wirst du vielleicht finden, dass sie Schwein gehabt haben.

Sorbier: Sie wollten nicht sterben!

François: Wollte ich etwa sterben? Das ist doch nicht unsere Schuld, wenn die Sache schiefgegangen ist.

Sorbier: Doch, das ist unsere Schuld.

François: Wir haben den Befehlen gehorcht.

Sorbier: Ja.

François: Sie haben gesagt: «Geht, nehmt das Dorf ein.» Wir haben gesagt: «Das ist doch idiotisch. In vierundzwanzig Stunden wissen die Deutschen Bescheid.» Sie haben geantwortet: «Nehmt das Dorf trotzdem ein.» Und wir haben gesagt: «Gut.» Und wir haben es gemacht. Wo ist da unsere Schuld?

Sorbier: Wir hätten es eben schaffen müssen.

François: Wir konnten es nicht schaffen.

Sorbier: Ich weiss. Wir hätten es trotzdem schaffen müssen. (Pause) Dreihundert. Dreihundert, die nicht sterben wollten und für nichts gestorben sind. Sie liegen zwischen den Steinen und die Sonne schwärzt sie; man kann sie sicher von allen Fenstern aus sehen. Unsertwegen. Unsertwegen gibt es in diesem ganzen Dorf nur noch Miliz, Tote und Steine. Es wird hart sein, mit diesen Schreien in den Ohren zu krepieren.

François (schreiend): Lass uns in Ruhe mit deinen Toten. Ich bin der Jüngste, ich habe nur gehorcht. Ich bin unschuldig. Unschuldig! Unschuldig!

Sartre, J.-P. (2006), Tote ohne Begräbnis, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt


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