Von alten Meistern, neuen Quacksalbern und grössenwahnsinnigen Kulturredaktoren

Unsere Kulturredaktoren besuchten zusammen zwei Ausstellungen im Kunstmuseum St. Gallen, waren sich endlich wieder einmal einig und versuchten, die Welt zu zerstören.

Grossartiger Mischmasch

Im Kunstmuseum St. Gallen lohnt sich der Besuch momentan. Und er wird sich bis Mitte August immer wieder lohnen. Bis dahin ist nämlich unter dem Titel «11 : 1 (+3) = Elf Sammlungen für ein Museum» ein Potpourri aus 11 verschiedenen Privatsammlungen zu sehen, welche dem Museum geschenkt wurden.

Die Schau zeigt nicht nur teilweise unglaublich begeisternde und umwerfend schöne Arbeiten, der Kurator Konrad Bitterli verstand es auch, gekonnt 11 völlig eigenständige Sammlungen und Sammelmethoden in eine konsistente und absolut grossartige Schau zu verwandeln. Dies darf nicht unterschätzt werden. Private Sammler haben alle eine eigene Sammelmethodik. Einige sammeln mit einem vorgegebenen Ziel, andere frei nach Lust und Laune, je nachdem, was ihnen gefällt. Der Kurator muss es nun verstehen, diese 11 Denkweisen zu durchleuchten und derart sorgfältig auszuwählen, dass er nicht nur eine für das Museum und den Betrachter interessante Ausstellung auf die Beine stellt, sondern auch 11 Sammlungen so (re-)präsentiert, wie wenn der Besucher sie einzeln betrachten könnte.

Einstieg mit Schwergewichten

Dies hat Konrad Bitterli mit seiner kuratorischen Meisterleistung geschafft. Beim Schlendern durch die Räume stellt sich vor jedem Bildergefüge ein neues Gefühl ein, welches aber immer an die vorherigen Betrachtungen anknüpft. Der Einstieg mit Monet, Munch, Liebermann und Hodler ist fulminant. Bei genauerem Betrachten des gelben Raumes stellt man sogar fest, dass Nedko Solakov – der bulgarische Künstler, dem im oberen Stockwerk eine Einzelschau gewidmet ist (dazu später) – überall seine kleinen Kritzeleien verstreut hat. Dies zieht sich durch die ganze (untere) Schau, lockert die teilweise doch eher schweren Bilder auf und man hat das Gefühl, dass auch diese ältere Kunst nicht so verstaubt ist, wie manch einer behaupten würde. «Augen auf» ist demnach das Motto, unter welchem man diese Ausstellung zu betrachten hat.

Im Folgeraum spielen sich ausschliesslich Schweizer Szenen ab. Ich fand es interessant, zu sehen, wie Bitterli die heimische Kunst kurz nach der Jahrhundertwende porträtiert. Zum grossen Teil Landschaftsbilder, viel Giovanni Giacometti, Hodler, Cuno Amiet und Felix Vallotton. Die üblichen Stars also. Überleitend zu den Jahren nach 1920 und der klassischen Moderne ist dann im nächsten Raum ein Bild aus dem Jahre 1913: Die Fantasia coloristica von Augusto Giacometti. (Man beachte, dass ich nie von Alberto Giacometti sprach, also bitte verwechselt das nicht.) Ein unglaublich überwältigendes Bild, welches meinen Begleiter und mich dazu veranlasste, uns sofort zu zügeln, da wir sonst ungeniert unsere Samenflüssigkeit auf die Leinwand verteilt hätten. Mir fehlt das kunstgeschichtliche Wissen, um lange und ausführlich über das Bild zu berichten: was ich aber weiss, ist, dass ich es geklaut und mir ins Wohnzimmer gehängt hätte, wäre es nur nicht so gross gewesen. Es folgen im selben Raum Bilder von Léger und von Le Corbusier, ein kleiner Fontana, ein Yves Klein und viele weitere, welche erwähnenswert wären, aber nicht erwähnt werden, aus Platzgründen.

Zwei Herzinfarkte

Der Übergang zur Nachkriegsmoderne gab mir dann den vermeintlichen Rest (denn ich wusste ja nicht, was später noch gezeigt werden sollte). Mein Herz blieb stehen bei den Nagelbildern von Günther Uecker, einer grossen Figur in der Zero-Bewegung. Rechts die konkrete, geometrische, geplante Nagelkomposition, welche die Raumwahrnehmung des Besuchers bei frontaler Betrachtung komplett zerstört; links die wilde, vermeintlich ungeplante, antigeometrische Nagelorgie, fragil und umgekehrt an der Wand lehnend, auf einem Baumstrunk balancierend, welche aber bei näherer Betrachtung im Holz wunderbare Muster und System erkennen lässt. Ich drehte mich um und hatte gleich noch einen Herzinfarkt. Es hängen da ein Max Bill (ein Bild aus jener Werkreihe, die der bewusste Student auch im B-Gebäude betrachten kann) und ein Josef Albers, den ich in einer solchen Farbkombination noch nie zuvor gesehen hatte und der mich auch sehr beeindruckte. Mein Begleiter, Vorsitzender des Ressorts 360° bei diesem Magazin, war anderer Meinung, und so kämpften wir mit Fäusten um die Ehre, dass nur einer überleben sollte. Ich bin noch hier.

Grosser Abschluss

Der letzte Raum birgt auch noch diverse Höhepunkte. Ein interessanter James Rosenquist mit Fahrradlampe neben einem noch interessanteren Lichtenstein. Ich mag Roy Lichtenstein nicht. Aber diese wohl eher atypische Arbeit mit Metallfolie gefällt mir. Daneben hängt Andy Warhols «Campbell’s Condensed Tomato Soup» aus dem Jahre 1962, welche man schon viel zu oft reproduziert und viel zu selten im Original gesehen hat. Ich sah kürzlich ein Bild aus dieser Serie in grossem Format. Das kleine im Kunstmuseum St. Gallen steht der 2-Meter-Version schon ein bisschen nach, nichtsdestotrotz muss man es gesehen haben, sonst hat man vom 20. Jahrhundert nichts verstanden! In der Ecke stehen zwei in Schokolade gehüllte Zwerge von Dieter Roth. Eine interessante Arbeit, aber schade, dass sie hinter Plexiglas steht, so dass man die Schokolade nicht riechen kann. Hinter der Wand sind dann jene Arbeiten, die den abschliessenden Höhepunkt einer gelungenen Ausstellung bilden sollten: On Kawaras (späte) Werkgruppe von Tagesdaten, welche er schon sein ganzes Leben lang auf Leinwand malt, und Imi Knoebels frühe Linienbilder aus dem Jahre 1967, welche in ihrer Grossartigkeit schwerlich zu überbieten sind. Schwarz auf weiss und weiss auf schwarz, und das nur jeweils auf einer Seite am Rand der Leinwand. Diese Bilder schliessen die Ausstellung, die auf einem zwar nicht vollständigen, aber umso interessanteren Parcours grosse Werke und grosse Sammlungen der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, wunderbar ab.

Nedko Solakov

Im oberen Stockwerk zeigt das Kunstmuseum St. Gallen wie schon erwähnt eine Einzelschau des bulgarischen Künstlers Nedko Solakov. Von den sechs Räumen, die von Solakov mit Arbeiten gefüllt wurden, befanden mein Begleiter und ich zwei für gut. Der erste ist banal. Das grosse gelbe Etwas an der Wand, welches Solakov von seinen Assistenten malen liess und dann vermeintlich vergass, wozu er es malen liess, ist auf den ersten Blick witzig, dann aber doch recht fad. Die im zweiten Raum ausgestellten 99 Zeichnungen mit dem Titel «Fears» sind spannend. 99 Auseinandersetzungen mit dem Thema Angst. Lässt sich durchaus anschauen, auch wenn man viel Durchhaltevermögen dafür braucht. Im dritten Raum ist dann wieder eine Enttäuschung vorzufinden. Solakov stellte u. a. einen schalldichten Kubus auf, bei welchem er den Besucher auffordert, darin so laut wie nur möglich zu schreien. Begeistert wollte ich den Kubus betreten, stellte aber fest, dass der Zutritt zum Kubus durch das Museum verboten wurde. Das zerstört doch das ganze Werk. Bei Erwin Wurms Ausstellung vor fast einem Jahr durfte der Besucher nach Aufforderung zur Partizipation auch wirklich mitmachen. Das war toll. Wie dem auch sei, die Solakov-Ausstellung wirkt unsympathisch und egoistisch. Solakovs Reflektionen unserer Umwelt scheinen nicht jene Schärfe zu besitzen, die ich von einem so gehypten Gegenwartskünstler erwartete. Die Ausstellung ist irgendwie beschwerlich. Nicht so locker und leichtfüssig, wie man es nach den Kritzelzeichnungen an der Wand in der unteren Ausstellung erwartet hätte. Lustig und verwirrend alleine reicht für mich halt einfach nicht. Mir ist das Ganze zu gesucht. Es ist das, was man von einem solchen zeitgenössischen Künstler erwartet, aber nichts Überraschendes. So «contemporary», das Ganze. Ich war völlig enttäuscht und wollte schon türmen, als ich im letzten Raum die Arbeiten «Good News, Bad News» sah. Scharf und tiefsinnig liegen sie in der Dunkelheit, durch Lichtpunkte erhellt, am Boden und zeigen die zwei Seiten des Lebens auf eine erfrischende Art. Diese Arbeit rettete für mich die Ausstellung.

Weltzerstörung

Auf dem Heimweg auferstand der Ressortleiter, den ich zuvor getötet hatte, übrigens aus seinem Grabe und wollte als Rache das Raumzeitkontinuum und so den Planeten zerstören, indem er jene Minuten zu ignorieren versuchte, welche er gebraucht hatte, um seinen im Kunstmuseum vergessenen Schal zu holen. Glücklicherweise konnte ich ihn in weiser Voraussicht davon abhalten, und so habe ich in der nächsten Ausgabe des prisma wieder die Chance, die Welt zu retten!


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