Von der Rebellion aus Trauer zur Lust an der Philosophie

Michael Festl ist seit Februar 2014 ständiger Dozent für Philosophie an der Uni St. Gallen. Ein Einblick in ein Leben, das von Schicksalsschlägen, einem Rausschmiss aus dem Gymnasium und bedingungsloser Liebe geprägt ist.

Zu spät kommen ist für uns Schweizer an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Genau dieses Missgeschick widerfährt uns beim Besuch von Michael Festl. Für die mickrigen 62 Kilometer von St. Gallen nach Steisslingen im Landkreis Konstanz benötigen wir ganze zwei Stunden. Mehr Stau geht nicht. Böse scheint uns Festl, der uns umgehend das Du anbietet, deswegen nicht zu sein – erst später erfahren wir, dass er Ungeduld als seine grösste Schwäche bezeichnet.

Die gigantische Krake

Dass wir beim Besuch des Philosophie-Dozenten nicht unter Platzangst leiden würden, war nach der vorsorglichen Konsultation von Google Maps klipp und klar. Stolze 1800 Quadratmeter misst sein Grundstück. Das mit Fingerprint-Zugangssystem ausgestatte Haus trägt aufgrund seiner verwinkelten Bauweise den niedlichen Beinamen «Die Krake». Nach dem Kauf der Immobilie vor zweieinhalb Jahren wurde sogleich ein Komplettumbau gestartet – dieser steht kurz vor dem Abschluss. Der Umzug ins 4000-Seelen-Dorf Steisslingen stellte für Festl einen krassen Kontrast dar. Mittlerweile hat er sich gut eingelebt und die Spaziergänge im nahegelegenen Wald möchte er nicht missen. «Ich bin kein totales Landei, ein bisschen aber schon», konstatiert er.

1980 wurde Michael Festl in Starnberg, Deutschland, geboren. Die ersten Jahre seiner Kindheit hat er in sehr schöner Erinnerung. Damals träumte der Bayern-Fan von einer Karriere als Fussballprofi. Als er neun Jahre alt war, starb seine Mutter völlig überraschend. Da er während dieser Zeit keinen engen Kontakt zu seinem Vater hatte, wuchs er von da an bei seinen Grosseltern auf. Als Festl 13 Jahre alt war, ereilte ihn ein zweiter Schicksalsschlag: Sein Grossvater verstarb. Festls schulische Leistungen verschlechterten sich drastisch.

Der unangenehmste Schüler

Schliesslich flog Festl in der elften Klasse vom Gymnasium – aus disziplinarischen Gründen. Zu viele kleinere Verstösse (Turnunterricht schwänzen, rauchen auf dem Pausenhof und dergleichen) hatten sich angesammelt. «In dieser Zeit machte es mir nichts aus, von der Schule zu fliegen – es war eine Erleichterung.» Heute ist es ihm eher unangenehm darüber zu sprechen. Ehrgeizig war er übrigens auch in dieser Lebensphase: «Während meiner Jugendjahre hatte ich meinen Ehrgeiz neben dem Fussball darauf projiziert, für die Lehrer der unangenehmste Schüler zu sein.»

Den Auftakt seiner akademischen Karriere bildete ein BWL-Studium, welches er aufgrund des nur fachgebundenen – und nicht gymnasialen – Abiturs gezwungenermassen, aber schliesslich voller Faszination absolvierte. Als nächstes fiel seine Wahl auf die Philosophie. «Es ist jene geisteswissenschaftliche Disziplin, die am meisten Spielraum lässt. Ausserdem gibt es Schnittstellen zur Wirtschaft.» Ein Master-Studium in Geschichte hängte er – als Ausgleich zu den abstrakten Thematiken des Philosophie-Doktorats – später noch an.

Sein Interesse für die Philosophie stammt nur teilweise von seinen Vorfahren: Festls Mutter hatte vor ihrem Tod insgesamt sieben verschiedene Studiengänge begonnen, Philosophie war allerdings nicht darunter. Abgeschlossen hat sie zudem keinen, was ihren Sohn wiederum besonders motivierte, ein Studium, oder auch ein paar mehr, abzuschliessen. Sein Vater war Geschäftsführer einer eigenen Firma für Massagestühle, heute schreibt er brutale Kriminalromane. Am Küchentisch seiner Grosseltern war die klassische geistige Bildung hingegen öfters Gesprächsthema.

Weshalb war der Student Festl das pure Gegenteil vom Schüler Festl? «Das Studium hat mir einfach viel mehr Spass gemacht.» Anlässlich seines ersten Studiums wurde Festl von zwei inspirierenden Hochschullehrern in den Bann gezogen, die er retrospektiv als Quelle seines akademischen Hungers bezeichnet. Während seiner Uni-Zeit war Festl übrigens nicht der grosse Partyhengst – seine rebellischen Jahre hatte er hinter sich.

Während seiner Studienzeit hatte Festl zwei Nebenjobs inne. Er schenkte Bier am lokalen Oktoberfest aus und arbeitete im Gepäckservice am Flughafen München. Vor allem die Sonntagsschicht, für welche er um 5 Uhr 30 aus den Federn musste, hatte es ihm angetan. Der Gedanke, dass die meisten anderen Menschen schlafen und er schon wieder arbeitet, motiviert ihn seit jeher speziell.

Eine wunderbare Lovestory

Die Beziehung zu seiner heutigen Ehefrau war während der Studienzeit allmächtig. An einer Abiturfeier vor 15 Jahren lernten sich die beiden kennen. «Zu Beginn hat vor allem sie mich zum Lernen gebracht. Diana war bereits die ideale Studentin und brachte mir bei, wie man dies wird.» Die Semesterferien und die Lernphasen haben sie immer zusammen verbracht. 2012 absolvierten die beiden – selbstverständlich gemeinsam – ein Jahr an der Universität in Chicago. Heute noch motivieren sie sich gegenseitig zu Höchstleistungen. Ihre Arbeitsplätze befinden sich in ein und demselben Raum, gearbeitet wird von Angesicht zu Angesicht.

Geheiratet haben die beiden im Jahr 2007. Unglaublich, aber wahr: Das Paar wählte als Auszugslied – vor dem Hintergrund des baldigen Umzugs nach St. Gallen für den Master in Banking and Finance – die Schweizer Nationalhymne. Über die Schweiz verliert Festl – ohne sich anbiedern zu wollen – keine schlechten Worte. «Die Schweiz ist in vieler Hinsicht ein absolutes Vorbild. Vor allem das Hemdsärmelige und das Pragmatische gefällt mir.»

In seiner Tätigkeit als Dozent orientiert sich Michael Festl daran, welche Professoren er in guter Erinnerung hat. Seine Kurse organisiert er so, dass er zwar viel Freiraum für Diskussionen gibt, auf der anderen Seite aber pro Veranstaltung jeweils einige kerninhaltliche Dinge an seine Studenten vermittelt. Dieses Konzept ist einer der Gründe, weshalb sich Festl bei den Studenten grösster Beliebtheit erfreut.

Die steile Karriere ist auch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft nicht entgangen. Von 2013 bis 2015 hatte Festl das prestigeträchtige Amt des Präsidenten inne. «Ich war mindestens 20 Jahre jünger als der zweitjüngste, der jemals dieses Amt bekleidet hat.»

Plötzlich stürmt Festls Sohn Marc Aurel (benannt nach dem Philosophen auf dem römischen Kaiserstuhl) zu uns ins Arbeitszimmer. Seine Mutter hat ihn eigentlich bereits zuvor ins Bett gebracht. Um das Interview ungestört abhalten zu können, beschliessen die Eltern, dass der Dreijährige im Schlafzimmer fernsehen darf. «Normalerweise ist dies ein absolutes Tabu, aber heute machen wir eine Ausnahme», stellt Festl lachend klar.

Arbeit nach dem Lustprinzip

Einen Ausgleich zu seinen beruflichen Tätigkeiten braucht Festl nicht. «Mein Modell ist eher ein steady flow ohne grössere Amplituden.» Mehr Energie als andere habe er nicht, seine Tätigkeiten strengen ihn schlichtweg nicht übermässig an, da er ihnen gerne nachkommt. Festl arbeitet konsequent nach dem Lustprinzip. Angst vor einem Burnout besitzt er demnach überhaupt keine.

Die Geburt seines Sohnes hat das Leben des 35-Jährigen radikal verändert. «Ich bin zu mehr Effizienz gezwungen, manche Zeitverluste kann ich damit auffangen. Insgesamt ist mein Output aber krass zurückgegangen.» Die dreiköpfige Familie, die auf die tatkräftige Mithilfe eines chinesischen Au-pairs zählen darf, würde sich über weiteren Zuwachs freuen. Dies muss noch etwas warten, da Diana Festl unmittelbar vor ihrem Doktorabschluss steht. In die Zukunft blickt Festl gelassen, da er seine Leidenschaft Philosophie zu seinem Beruf machen konnte. Einen eigenen Lehrstuhl für Philosophie zu erhalten, wäre für ihn die Kür, da er so Doktoranden betreuen könnte. Dies wäre sein persönliches Sahnehäubchen.

Am Schluss des Interviews konstatiert Festl, dass er zu viel rede. Wir sehen dies anders, denn seinen Worten hätten wir mit grösstem Interesse noch lange gelauscht. Anschliessend zeigt er uns mittels einer Dorfführung, weshalb ihm das Landleben in Steisslingen dermassen behagt. Auch wir sind vom kleinen, aber feinen Dorf hin und weg. Beim abschliessenden Pizzaessen verstricken wir uns in hochinteressante Gespräche mit Michael Festl und seiner Frau. Schliesslich nehmen wir nach einem vierstündigen Aufenthalt den Heimweg in Angriff. Und zwar gänzlich ohne Stau, dafür aber voller Gedanken rund um einen Menschen, von dem wir mehr als nur beeindruckt sind.

Bilder Yannik Breitenstein


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