Warum St. Gallen ein Dorf ist

Die provinziellen Seiten unserer Universitätsstadt

St. Gallen ist definitorisch gesehen klar eine Stadt. Das Zentrum der östlichen Schweiz beheimatet schätzungsweise eine Milliarde Treppenstufen, über 70‘000 Einwohner, mehr als 100 Erker, zwölf Kirchen, neun Museen, vier Parks und den ältesten Fussballverein Zentraleuropas. Trotz grosser Zahlen, dem Bischof und pompösen Villen konnte St. Gallen seinen Dorfcharakter nie ganz abschütteln.

Der Bahnhof wirkt lächerlich überdimen-sioniert, auch die Tonhalle ist eine Nummer zu protzig geraten. Spaziert man durch das Museumsviertel, spürt man noch die vergangene Grösse des selbstbewussten Bürgertums der damaligen Textilstadt, die internationalen Ruf genoss. Diese Zeit scheint längst vorbei zu sein, wenn man gerade am Marktplatz neben den klassischen Dorfalkoholikern auf den Bus wartet. Schlendert man durch die pittoreske Altstadt, fällt auf, dass die St. Galler wohl nie mit Platzproblemen zu kämpfen hatten; viel zu breit und geordnet furcht sich die Fussgängerzone durch die Kernsiedlung. Alles wirkt ruhig und hübsch, im Gegensatz zu Zürich oder Basel sind die Menschen weniger hektisch und klopfen noch gerne einen Jass am Stammtisch in einer der unzähligen Beizen.

Nach In-Bars und Trendgastronomie sucht man vergeblich. Den roten Platz von Pipilotti Rist, das Bullenquartier von Mario Botta oder den Unterstand von Santiago Calatrava am Bohl kauft man den Ostschweizern nicht ganz ab. Viel besser passt zu ihnen der Vadian, die Kathedrale mit ihrer prunkvollen Stiftsbibliothek oder der Ort der Ironie. Zur Universität wird eine Hassliebe empfunden. Einerseits ist man zwar stolz auf die HSG, aber andererseits ist sie der Bevölkerung aufgrund eines arrogant-mondänen Auftretens gewisser Studenten und Dozenten doch insgeheim unsympathisch.

In den Geschäften wird man auffallend schnell mit Namen begrüsst, auch wenn man nicht zu den Topkunden gehört – man kennt sich in St. Gallen. Und so wird der persönliche Kontakt unter den Bewohnern weiter mit Hilfe unzähliger Feste auf den geselligen Bierbänken mit einer Bratwurst zur Linken und einem Schützengarten zur Rechten kultiviert. Jeder kann sich dazusetzen, schnell kommt man ins Gespräch. Doch so offen die St. Galler untereinander auch sind, mit nicht ansässigen Personen oder gar Ausländern will man dann doch nicht gleich gemeinsam einen Stumpen rauchen. Die Kultur ist ländlich geprägt, man ist von Bauern-höfen umzingelt.

Der St. Galler lebt wie im Dorfe, einfach in einem grösseren. Man grüsst sich noch auf der Strasse. Man plaudert noch zusammen, ohne oberflächlich zu sein, weil man sich schon lange kennt. Man kann in den Geschäften aufschreiben lassen. Man antwortet in Schweizerdeutsch, egal in welcher Sprache man gefragt wurde. Es gibt noch die Erststock-Kneipen, denen der Schriftsteller Thomas Hürlimann ein Denkmal setzte. St. Gallen – eine Stadt? Ja, aber nur für die anderen. Wer selbst dort lebt, weiss, dass man sich nur in einem Dorf kollektiv das ganze Jahr auf eine Landwirtschafts- und Ernährungsmesse freuen und sogar dafür Ferien nehmen kann. Und das ist auch gut so.


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