Wenn Fische klettern sollen

Seit ihrem Aufkommen in den 1940er-Jahren hat sich die Depression als eine Art Modekrankheit etabliert. Doch wer ist tatsächlich gescheitert? Das Individuum oder die Gesellschaft?

Neulich hing bei uns am Kühlschrank ein neongrüner, kreisrunder Aufkleber mit der Aufschrift «Wow, du hast irgendwie das gewisse Nichts». Das Kleingedruckte am unteren Rand forderte den Betrachter sodann dazu auf, eine KV Ausbildung mit Berufsmaturität zu absolvieren. Ganz abgesehen von – oder vielleicht genau wegen – der unglücklich gewählten Wortwahl und der damit erzeugten Assoziation von «KV Ausbildung» mit «Nichts», ist die versuchte Werbemassnahme des regionalen Kaufmännischen Verbandes auf den ersten Blick eigentlich ganz witzig. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich in diesem Ausspruch allerdings die Krankheit der gegenwärtigen Gesellschaft, denn der gedankenlose Witz impliziert, dass der Mensch als solcher nichts wert ist, ohne die höchstmögliche Ausschöpfung seines Potenzials – und zwar eines von der Gesellschaft in konformer Denkweise vordefinierten Potenzials.

Gesellschaftlicher Wandel

Nach dem Zweiten Weltkrieg findet mit der Globalisierung ein Wandel in der Gesellschaft statt: Die Disziplinargesellschaft wandelt sich zur Leistungsgesellschaft, Grenzen werden durch Selbstinitiative ersetzt, und das Augenmerk gilt nunmehr der vollständigen Entfaltung des Selbst. Die Grenze zwischen Verbotenem und Erlaubtem schwindet zugunsten des Möglichen und Unmöglichen. Das Individuum sieht sich einem Übermass an (aufgezwungener) Freiheit gegenüber. Als Folge ergibt sich ein Wandel in der pathologischen Landschaft: immunologische weichen neuronalen Erkrankungen. Infarkte wie ADHS, Burnout-Syndrom oder Borderline-Persönlichkeitsstörung treten zunehmend in den Vordergrund – Erkrankungen, welche nicht durch die Negativität des immunologisch Anderen, sondern vielmehr durch die übermässige Positivität des Gleichen bedingt sind. An die Stelle von Verbrechern und Verrückten, die an den exogenen Grenzen der Disziplinargesellschaft ersticken, treten Depressive und Versager, die ihrerseits am gesellschaftlichen Imperativ nur sich selbst zu gehören zugrunde gehen.

Das erschöpfte Selbst

Das Abrutschen in eine Depression gründet laut dem französischen Soziologen Alain Ehrenberg in der Erschöpfung, welche aus der Suche nach dem Selbst resultiert. Apathie, Lustlosigkeit und ein Zustand der Lähmung sind das Ergebnis. Der Mensch scheitert demzufolge an seiner angestrebten Selbstverwirklichung und damit an sich selbst. Dies ist allerdings eine äusserst simplifizierte Betrachtung. Es muss die Aussenwelt als einwirkender Faktor miteinbezogen werden, wie es auch die neue Lehre in den letzten Jahren erkannt hat.

Das Gesellschafts-Individuum

Die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft stellt schon seit der griechischen Antike einen wichtigen Bestandteil des philosophischen Diskurses dar und hat an Aktualität kaum verloren. In einer Welt, in der die Wechselwirkung zwischen den beiden Akteuren eine axiomatische Stellung einnimmt, kann die gescheiterte Suche nach sich selbst deshalb nicht losgelöst als Versagen des Individuums interpretiert, sondern muss in den gesellschaftlich gebotenen Rahmen gesetzt werden. Niemand erblickt das Licht der Welt und erklärt die Position als CFO einer Audit-Firma fortan zum heiligen Gral. Als Kinder sind wir Träumer, wollen Astronauten, Fussball-Profi oder Pop-Stars werden. Doch wir werden älter, es wird uns beigebracht, innerhalb der vorgezeichneten Linien zu malen, Träume werden zunehmend durch Praktikabilität und Rationalität ersetzt. Und so verschwinden die leuchtenden Kinderaugen, und greifbare Ambitionen und Ziele treten an ihre Stelle, indem die gesellschaftlichen Erwartungen im Herzen der Bürger instilliert werden. Unter dem Vorwand der Individualität wird Konformität in Form von Werten gepredigt. Um der Funktionalität Willen sollen die Interessen der Gesellschaft und diejenigen des Individuums verschmelzen, und es werden Ziele definiert, welche für alle gelten und anhand welcher unser Wert bemessen wird. In gewisser Weise ist dieses Vorgehen unabdingbar für das Funktionieren einer Gesellschaft. Doch werden Fische anhand ihrer Fähigkeit zu klettern gemessen, so werden sie letztendlich an dieser Erwartung zugrunde gehen.

Klettern mit Flossen

Nicht nur werden die erstrebenswerten Ziele der Individuen einer Gesellschaft über einen Kamm geschert, sondern im Zusammenhang mit deren Erreichung koexistiert eine gesellschaftliche Erwartung bezüglich der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Individualität nebenher. Kurz: Strebe nach universal definierten Zielen, bleib dabei jedoch individuell und folge deinen eigenen Ambitionen. Problematisch ist dabei nur, dass diese beiden Forderungen sich meist nicht vereinen lassen – nicht jedermann kann Affe sein. Der Fisch soll nicht nur klettern können, er soll dabei auch seine Flossen beibehalten. Aus dieser Ambiguität der Forderungen ergeben sich zweierlei Wege. Zum einen kann das Individuum versuchen, sich beiden Forderungen hinzugeben, indem es nach Ruhm und Ehre strebt und seine Individualität ganz im Zuge der aufstrebenden Konsumgesellschaft mit dem Besitz von Konsumgütern zum Ausdruck bringt und gewissermassen darauf limitiert. «Moderne Individualität ist mentale Konformität plus dekorative Diversität», um es mit den Worten des österreichischen Soziologen Manfred Prischings auszudrücken. Zum anderen fällt der Mensch in eine Depression ab. Er ermüdet an der Anstrengung, ein gesellschaftlich vordiktiertes Ziel, welches sich aufgrund des wechselwirkenden Charakters von Individuum und Gesellschaft in der eigenen Psyche verankert hat und zum eigenen Ziel geworden ist, erreichen zu wollen und endet in einem Zustand der Apathie, Machtlosigkeit und Leere. Er ist zum Scheitern verurteilt. Das Individuum scheitert an der Ambiguität der gesellschaftlichen Erwartungen.

Depression und Scheitern

Kann man es ganz generell überhaupt als Scheitern, oder gar Versagen, bezeichnen, wenn vor der individuell angestrebten Ausschöpfung seines Potenzials resigniert wird? Oder ist es schlicht die Enttäuschung über die Nichterreichung der offensichtlich überhöht angesetzten Ambitionen? Und scheitert das Individuum tatsächlich an sich selbst, wenn die erstrebenswerten Ziele doch gewissermassen gesellschaftlich vorgegeben sind? Ist Depression also das Scheitern des Individuums oder der Gesellschaft? Darauf gibt es wohl keine Antwort. Gesagt werden kann lediglich, dass das Gefühl des Versagens oftmals nicht Bestandteil einer Depression ist – denn wozu der Antrieb fehlt um es anzupacken, daran kann auch nicht gescheitert werden.

Illustration Luana Rossi


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