Wie der Rückzug des stillen Rückzugs Dr. Müllers Praxis belebt

Eine Stunde im Wartezimmer von Dr. Müller zeigt, wie sich die Abschaffung des stillen Rückzugs an der Hochschule St. Gallen ausgewirkt hat.

Ein Tag im März Zweitausendundsieben. Elf Uhr morgens, graues Hochhaus in St. Gallen, sechster Stock, Praxis Dr. Müller. Das Wartezimmer ist voll. Zwei ältere gebrechliche Damen, ein junger, sportlicher Typ, drei junge Damen, eine Mutter mit Kleinkind, noch ein junger Mann. Künstliches Schweigen. Zwischendurch mustert man die andern – wer kommt wohl als Nächster dran? Kranke, die krank sind. Kranke, die nicht krank sind. Bei Letzteren gibt es zwei Sorten. Frau B. (70) leidet an einem chronischen Mangel an sozialen Kontakten – glücklicherweise ist dies gut therapierbar. Heute Morgen hat sie am Bankschalter Geld abgehoben, war dann beim Friseur, ist jetzt beim Arzt; am Abend muss sie dann noch das abgehobene Geld wieder am Bankschalter einzahlen – bei derselben Bank, versteht sich. Reto (22) gehört zur zweiten Sorte. Er ist Student an der HSG und leidet am «stillen Rückzug». Entgegen der allgemeinen Annahme handelt es sich hierbei aber nicht um einen sozialen Rückzug wie bei Frau B. Reto muss zum Arzt, weil er eine Prüfung ausgelassen hat. Reto ist kein Einzelfall.

Fünf Arztbesuche in zwei Tagen

Seit kurzem gibt es den stillen Rückzug an der HSG nicht mehr, d.h. wenn man sich zu einer Prüfung anmeldet und diese dann ohne wichtige Gründe nicht ablegt, dann bekommt man eine Eins ins Zeugnis. Was in Deutschland gut aussieht, ist hierzulande gleichbedeutend mit Durchfallen. Die wichtigen Gründe sind präzise festgeschrieben – nur Krankheit, Unfall, Geburt, Todesfall und Ähnliches ist akzeptabel. Das alles muss genau belegt werden – ohne Totenschein respektive ein Dossier bestehend aus Krankheitsbescheinigung, medizinischem Arztzeugnis und schriftlicher Stellungnahme zur Prüfungstauglichkeit geht gar nichts. Das alles muss versiegelt an einen Vertrauensarzt weitergeleitet werden, und so weiter und so fort. Bürokratie ohne Ende.

Bis Anfang März war Reto in St. Gallen noch nie bei einem Arzt. In diesem Monat aber bereits fünfmal. Viermal gestern, einmal heute. Sein Problem: Er ist kerngesund. Die ersten drei Ärzte wollten ihm deswegen kein Arztzeugnis ausstellen. Der vierte war trotz des langen Medizinstudiums den bürokratischen Anforderungen der HSG-Vorgaben nicht gewachsen. Nach Durchsicht des zweiseitigen Merkblattes hat der Arzt dann entschieden, dass Reto doch nicht krank sei. Reto hat sich in der Zwischenzeit ernsthaft überlegt, ob er sich etwas zufügen sollte – dann müssten sie ihm ein Zeugnis geben. Ohne den Papierfetzen kriegt er achtzehn Minuscredits auf einen Schlag. Die Bachelor-Stufe wäre dann bereits so gut wie gelaufen – und das schon im dritten Semester. Also könnte er sich auch «etwas Richtiges» antun. Doch zuerst will ers nun doch noch ein letztes Mal versuchen. Deswegen sitzt er jetzt im Wartezimmer von Dr. Müller. Und es klappt. Reto staunt. Dr. Müller kennt das Merkblatt der Uni in- und auswendig. Effizient füllt der Arzt alle Berichte aus, das Kuvert ist bereits voradressiert. Keine langen Untersuchungen, keine unbequemen Fragen. Das ist effizient. So auch für den Arzt – die Patientenzahl mit dem Syndrom «stiller Rückzug» nimmt zu, bei Dr. Müller herrschen epidemieverdächtige Zustände. Reto ist definitiv kein Einzelfall.

Hübsche Praktikantinnen und Kranke, die besser nicht gesund geworden wären Die drei jungen Damen warten immer noch im Wartezimmer. Melissa (23), Noemi (19) und Jasmine (20) studieren ebenfalls an der HSG. Alle drei hübsch und gesund. Melissa hat neben dem Studium ein Praktikum gemacht. Nach der Prüfungsanmeldung wurde ihr ein anspruchsvolles Projekt angeboten – sie hat angenommen und sich richtig ins Zeug gelegt. Der Chef war hochzufrieden, zum Lernen hatte sie aber keine Zeit. Die Prüfung hätte ihren exzellenten Notenschnitt der vorangehenden Semester «versaut». Auch das kein Einzelfall. Jasmine hatte eine schwere Zeit. Ihre Mutter wurde unerwartet schwer krank und lag zwei Wochen auf der Intensivstation. Jasmine war oft im Spital und konnte sich kaum aufs Lernen konzentrieren, es gab nun einfach Wichtigeres. Glücklicherweise gehts ihrer Mutter nun besser. Aber Totenschein gabs keinen und deswegen muss sie nun selber krank werden – wenigstens auf dem Papier. Auch das nicht zwingend ein Einzelfall.

Noemi war wirklich krank – aber eben «war». Sie lag während der Lernphase zwei Wochen mit hohem Fieber im Bett – an Lernen war nicht zu denken. Jetzt, auf die Prüfungen hin, ist sie dummerweise wieder gesund, aber unvorbereitet. Deswegen ist auch sie hier. Noemi ist kein Einzelfall.

Kurzsichtig und schwerhörig

Der stille Rückzug wurde abgeschafft, weil die vielen Rückzüge zu organisatorischen Problemen führten und dadurch angeblich personelle, räumliche und finanzielle Ressourcen verschwendet wurden. Das klingt nach neuer Verpackung, weniger Inhalt und selbem Preis – davor warnen ja die Marketing- und Strategieprofessoren ständig. Finanzielle Ressourcen vor der Verschwendung retten – was so heldenhaft klingt, ist nichts anderes als Gewinnmaximierung. Wohin geht denn das Eingesparte? Die Warnungen der Ethikdozenten sind wohl nicht bis in die Verwaltung vorgedrungen. Würden die Politikwissenschaftler dieser Denkweise folgen, so würden schon bald nur noch jene ein Abstimmungskuvert erhalten, die an der letzten Abstimmung auch wirklich teilgenommen haben.

Mit der Abschaffung des stillen Rückzugs wurden Freiheitsrechte der Studierenden abgebaut. Wer nebenbei Verpflichtungen in Beruf, Familie oder politischen Ämtern hat und daher auf eine flexible Studienplanung angewiesen ist, hat es nunmehr schwerer. Disziplin und Selbstverantwortung werden dadurch nicht etwa gefördert, ganz im Gegenteil. Selbstverantwortliches Handeln wird vielmehr durch eigene Entscheidungen als durch verpflichtende Vorgaben sichergestellt. Der Entscheid des Universitätsrats, den stillen Rückzug abzuschaffen, lässt auch die viel gepriesene ganzheitliche Sichtweise vermissen. Jemand muss ja die Gesuche prüfen, den Vertrauensarzt involvieren, Bescheid geben und so weiter. Das ruft wiederum nach personellen Ressourcen. Was die finanziellen Ressourcen angeht, so spart die Uni vielleicht ein paar Franken, doch die externen Kosten sind verheerend. Es ist fraglich, ob die fünf Arztbesuche von Reto die Einsparungen der Uni nicht bereits übersteigen. Also ein gelungener Beitrag zur Kostenexplosion im Schweizer Gesundheitswesen.

Lösungen gäbe es schon. Elegant wäre natürlich ein Splitting der Prüfungsgebühr auf die einzelnen Fächer, wobei man das Nichtablegen einer Prüfung bezahlt. Denkbar wäre auch ein späterer Prüfungsanmeldetermin. Oder warum nicht wie früher – einfach wieder den stillen Rückzug einführen? Reformen sind nicht immer gut und «Laisser-faire» nicht immer schlecht.
Es ist nun zwölf Uhr. Ein Patient ist immer noch im Wartezimmer. Der junge Mann hat Schweissperlen auf der Stirn und fühlt sich sichtlich unwohl. Und doch ist auch er HSG-Student. Er ist wirklich krank. Wohl ein Einzelfall.


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