Wir spielen unsere Kultur

Was unterscheidet Videospiele von Büchern oder Filmen? Eigentlich nicht viel, nur das Medium. Man taucht ein in eine fremde Welt mit eigenen Gesetzen, vergnügt sich und lernt vielleicht sogar etwas.

Es gibt sehr viele sinnvolle und fordernde Games. Brillante Rollenspiele, knifflige Adventures und Geschicklichkeitsspiele oder komplexe Strategiespiele sind nicht nur gute Unterhaltung, sondern verbessern auch, je nach Spiel, Reflexions-, Koordinations- oder Entscheidungsfähigkeit des Spielers. Solche Spiele zu kreieren ist Kunst: Es gehört mindestens ebenso viel Recherchearbeit und Kreativität dazu wie bei der Schaffung anderer Kulturmedien. Games spiegeln Stimmungen und Trends unserer Gesellschaft wider. Auch hinter ihnen sitzen letzten Endes einer oder mehrere Autoren, die uns etwas mitteilen wollen. Natürlich gibt es auch Karaoke-, Musik- oder Tanzspiele, deren Unterhaltungswert klar den intellektuellen Wert übersteigt, aber auch ihnen gehört meiner Ansicht nach das Prädikat «Kulturgut» verliehen. Wer den Abschnitt zum neuen Singspiel «Lips» liest, wird verstehen, was ich meine.

Videogames – quo vadunt?

Wie sehen die Videogames von übermorgen aus? Wo liegen die Trends? Was geht in den Köpfen der Entwickler vor? Die fünfte Game Hotel Show in Zürich gab Antwort auf genau diese Fragen. Ein abendfüllendes Programm mit internationalen Gästen und bester Unterhaltung erwartete mich. Checking in at Game Hotel: Jennifer Kahn.

«Liebe Zockerinnen und Zocker, Gelegenheits-Spieler und Anfänger …» Mit diesen Worten wurde das Game Hotel Publikum am Abend des 25. Oktobers in der futuristischen Filmarena in Sihl City begrüsst. Von der ersten Sekunde an war klar: Das ist keine Nischenversammlung für neardige Geeks, sondern beste Samstagabend-Unterhaltung für jedermann und jede Frau.

Intelligentes Singstar

«Lips» heisst das neue Karaoke-Game, das exklusiv für die Xbox 360 erscheint. Anders als in den bereits bekannten Singstar-Spielen für die Playstation kann Lips zwischen Pfeifen, Summen oder Singen differenzieren. Schummeln wird zwar so bemerkt, aber auch wer kein Pop-Stimmchen hat, beendet das Spiel nicht mit null Punkten auf dem Konto: Auch durch das Schütteln des Mikrofons im richtigen Takt erhält man Punkte und in manchen Stücken ist sogar Pfeifen gefordert. Jeder kann mitmachen – Spass, Wettkampf und Party – darum geht es in Lips. Keiichi Yano, der Entwickler des Spiels, zeigt dem Game Hotel Publikum live, wie’s gemacht wird. Bei «Take on me» von a-ha lässt der karaokeerprobte Japaner seine Konkurrenz ziemlich alt aussehen. Musik ist Kulturgut, «a social thing», das Menschen zusammenbringt, und genau das will Keiichi mit seinem Game: «Music is coming back to the people. You know it much better by singing it. It does not really exist just on a disc», argumentiert er.

Japanese Art für die Wii

Ruu Weerasuriya, in der Schweiz aufgewachsener Spielentwickler mit Wurzeln in Sri Lanka, ist der nächste Star auf der Bühne. Dank ihm gibt es das Action-Adventure «Okami» auch auf Nintendos Wii zu spielen (zuvor nur auf Playstation 2). «Okami» ist ein überaus beeindruckendes und erfrischendes Spiel: In Gestalt eines Wolfes streift man auf epischer Mission durch das alte Japan und schlägt Dämonen und andere Widersacher mit Hilfe von physischen Attacken und Pinselstrichtechniken in die Flucht. Das ganze Spiel ist in einem einzigartigen kalligrafieähnlichen Stil gehalten; dank diesem wirken die Streifzüge durch das Japan der Vergangenheit nicht nur authentisch, sondern sind für den Spieler zudem eine ästhetische Augenweide. Jedoch längst nicht alle japanischen Spiele schaffen es wie «Okami» in die europäischen Wohnzimmer. Storys und Charakter Design aus dem Land der aufgehenden Sonne haben oft einen ganz eigenen Stil und wirken hierzulande etwas befremdend. Viele Spieleperlen, insbesondere RPGs (Role Play Games), erscheinen nur in Japan selbst und in den USA. Richtige Fans (mit viel Zeit und dem nötigen Kleingeld) lassen sich davon aber nicht unterkriegen, sondern bauen entweder ihre Konsole um oder kaufen sie sich nochmals – als US-Version. Wer weder Zeit noch Geld hat, aber trotzdem ein wahrer Fan mit langfristiger Perspektive ist, besucht den Japanisch-Kurs an der HSG. Den kann ich übrigens wärmstens empfehlen.

Geniale Independent Games

In der Sektion «Independent Games» stellen junge Spiele-Entwickler, die unabhängig von den grossen Entwicklungsfirmen arbeiten, ihre Werke vor. Von ihnen wird gesagt, dass sie das Potenzial haben, die zukünftigen Stars der Szene zu werden. Der 26 Jahre junge Derek Yu aus den USA stellt sein Game «Aquaria» vor, mit dem er bereits 2007 beim «Independent Games Festival» den ersten Platz belegte. Seit seiner Kindheit wollte Yu ein Abenteuer in einer faszinierenden Unterwasserwelt kreieren. Während er an den Grafiken bastelte, übernahm auf der anderen Seite des Ozeans ein Kollege Programmierung und Kreation des Soundtracks – obwohl die beiden sich nie gesehen hatten. Auf www.bit-blot.com/aquaria/demo.html kann man sich die Demoversion des Spiels herunterladen – vielleicht die willkommene Abwechslung während der nächsten Lernpause?

Ein Kreativitätsfeuerwerk kann man das nennen, was Petri Purho aus Finnland seinem Publikum präsentierte. In «Crayon Physics deluxe» muss der Spieler mittels selbstgezeichneter Konstruktionen wie Katapulten, Gewichten u. a. versuchen, einen Gegenstand möglichst kreativ von A nach B zu bewegen – ein simples Konzept, das einen hohen Suchtfaktor verspricht. Auch die Mini-Games von Purho, die seinen schrägen Humor zur Geltung kommen lassen, sorgen für Begeisterung: In «Pluto strikes back» darf man sich als Ex-Planet mittels Flipper-Tool an den anderen Planeten im Sonnensystem rächen oder in «Barbecue Party in hell» Hello Kitties rösten. Noch viel mehr makabre Spiele auf ansprechendem intellektuellem Niveau gibt es auf http://www.kloonigames.com

It’s your decision

Zum Schluss der Game Hotel Show gehört die Bühne wieder den Grossen: Georg Backer, Produzent von den Lionhead Studios, und Chris Hecker, Entwickler bei Electronic Arts, gehören beide grossen kommerziellen Spieleschmieden an und haben ihre Independent-Zeit längst hinter sich. Auf den ersten Blick stellen die beiden zwei recht unterschiedliche Spiele vor: Georg zeigt das brandneue «Fable II», ein Rollenspiel exklusiv für die Xbox 360 (es erübrigt sich zu erwähnen, dass Microsoft der Hauptsponsor des Abends war, oder?), und Chris präsentiert «Spore», eine Simulation für den PC. Die beiden Spiele haben jedoch etwas gemeinsam: eine schier unbegrenzte Zahl an Entscheidungsmöglichkeiten für den Spieler.

In «Fable II» ist es dem Spieler beispielsweise selbst überlassen, wie er seinen Charakter gestaltet und ob er diesen gut oder böse handeln lässt. Das Faszinierende daran: Die Umwelt reagiert darauf. Jeder NPC (computergesteuerter Charakter) entwickelt je nach Verhalten und äusserem Erscheinungsbild des Helden eine andere Meinung über ihn. Es liegt an einem selbst, ob man wahllos Leute abschlachtet (mit der Konsequenz, dass oft relativ schnell die Ordnungshüter auf den Plan gerufen werden und man Bussen fürs Morden bezahlt) oder seinen Mit-«Menschen» mit Freundlichkeit begegnet.

In «Spore» kann man wiederum nach seinen ganz eigenen Vorstellungen eine Kreatur erschaffen. Mit einem leblosen Rumpf fängt alles an, dann dürfen nach Lust und Laune Beine, Krallen, Augen, Hörner und weitere Körperteile in allen möglichen Formen und Farben hinzugebastelt werden – der Kreativität sind (fast) keine Grenzen gesetzt. Mit dieser Kreatur macht man sich anschliessend auf, die Welt zu erkunden: Erst die Ursuppe, dann stufenweise den eigenen Planeten und zum Schluss die Galaxie.

Nach dem Release im September war «Spore» drei Wochen lang auf Platz 1 der PC-Verkaufscharts, nun, Mitte November, dümpelt es noch auf Platz 13 herum. Was ist mit dem Hype passiert? Zumindest Spieler, die gefordert werden wollen, werden mit «Spore» selbst auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad nur begrenzt Freude haben: Linearer Verlauf, keine Neben-Quests, zu simple Aufgaben. Zum Abschalten nach einem anstrengenden Tag vielleicht genau das Richtige. Das ist genau das, was der «Casual Gamer» von heute will – «Spore» ist Mainstream. Ob gestresster Geschäftsmann, der abends kurz für eine Stunde den PC einschaltet, oder Neueinsteigerin, die den Trend mitmachen will – jeder und jede kann «Spore» spielen.

Gehört die Zukunft also simplen Casual Games mit hoher Kreativität, aber tiefem Schwierigkeitsgrad? Nein, ich denke nicht nur. Einerseits gibt es immer noch eine grosse Fan-Gemeinde für komplexere Spiele, wie viele Strategie- und Rollenspiele es sind, andererseits glaube ich, dass solche Mainstream-Games vielen Menschen den Zugang zu einer neuen Welt erst ermöglichen. Kennen sich diese Neueinsteiger erst einmal ein wenig aus, werde manche auch mehr wollen als einfach nur relaxen. Es gilt wie so häufig: Der Markt wird’s richten – it’s your decision.


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