Wohin marschieren wir?

Alle müssen, kaum einer will. In Zeiten des Individualismus, der Globalisierung und nach Jahrzehnten ohne Krieg in Europa, wird die allgemeine Wehrpflicht immer häufiger in Frage gestellt. Eine kritische Würdigung.

Nachdem der damalige deutsche Verteidigungsminister zu Guttenberg sich zitieren liess, «mit mir ist die Abschaffung der Wehrpflicht nicht zu machen», drehte er sich innerhalb weniger Wochen um 180 Grad und liess sich dafür feiern, die Wehrpflicht abzuschaffen. Zu laut wurden die Argumente der Kritiker, und der Minister fürchtete letztlich um die eigene Popularität.

Damit ist Deutschland das letzte der grossen europäischen Länder, welches der jahrzehntelangen Tradition einer allgemeinen Wehrpflicht den Rücken zuwendet.

In der Schweiz ist die Debatte zur Wehrpflicht derzeit in vollem Gange. Aktuell unterliegen junge Männer zwischen 18 und 34 Jahren noch grundsätzlich der Dienstpflicht und werden zu einer Grundausbildung und jährlichen Wiederholungskursen aufgeboten. Wobei hierbei die Verweigerung aus Gewissensgründen und das Leisten eines Ersatzdienstes möglich ist und auch immer häufiger genutzt wird, wie Studien belegen.

Die Alternative zur Wehrpflicht ist die Einführung eines Berufsheeres. Dabei muss das militärische Personal auf dem Arbeitsmarkt angeworben werden und das «Berufsbild Soldat» mit anderen Karrieremöglichkeiten konkurrieren. Die Erfahrung zeigt, dass in Ländern mit Berufsheer häufig diejenigen den Dienst an der Waffe leisten, bei denen andere zivilberufliche Optionen eher begrenzt sind.

Die wichtigsten Argumente für und gegen die Wehrpflicht auf einen Blick:

CON: «Braucht man heutzutage nicht mehr»

Dieses Argument geht davon aus, dass sich die Sicherheitslage in Europa in den letzten Jahrzehnten geändert hat und der Ausgang des «Kriegs von heute» hauptsächlich von technischer Überlegenheit und weniger von personeller Stärke abhängt.

Relativiert werden dürfte dieses Argument dadurch, dass moderne Technik immer breiter verfügbar wird und auch High-Tech-Nationen wie die USA in den Konflikten im vergangenen Jahrzehnt feststellen mussten, dass diese immer noch enorm viel Personal binden. Auch der Katastrophenschutz, der personalintensiv in der Vergangenheit häufig vom Militär unterstützt wurde.

Ausserdem: Nicht alle Staaten rüsten ihre stehenden Heere ab, wie es die westlichen Demokratien tun. Russland, die Ukraine und Weissrussland unterhalten immer noch stehende Heere in Millionenhöhe. Gerade weil die Schweiz kein NATO-Bündnispartner ist – sollte sie dem allgemeinen Trend zur Abrüstung folgen? Was die Zukunft bringt weiss keiner.

CON: «Wehrpflicht ist teurer als eine Freiwilligenarmee»

Dass eine Freiwilligenarmee aufgrund der kleineren Zahl an Soldaten weniger kostet als ein Berufsheer, haben die Erfahrungen anderer Staaten in Europa definitiv wiederlegt. Denn die dann anfallende Notwendigkeit, die finanzielle Attraktivität des Soldatenberufs massiv zu steigern, schlägt zu Buche. Während Deutschland, als es noch die Wehrpflicht hatte, 26’800 Euro pro Soldat und Jahr aufwandte, zahlte Frankreich, seit 2001 mit Berufsarmee, pro Kopf 32’900 Euro und die Niederlande, Freiwilligenheer seit 1996, sogar 57’300 Euro pro Kopf. Jährliche Mehrkosten zwischen einer und knapp acht Milliarden Euro wären nach dieser Berechnung die Folge.

Spanien, seit 2002 ohne Wehrpflicht, musste aus Mangel an geeigneten Bewerbern sogar soweit gehen, Bürgern ehemaliger Kolonialstaaten bei der Verpflichtung zum Dienst in Heer, Luftwaffe und Marine die spanische Staatsbürgerschaft in Aussicht zu stellen.

CON: «Die Wehrpflicht ist Zeitverschwendung »

Die Erkenntnis, dass man die für Grundausbildung und militärische Lehrgänge aufgewendete Zeit auch anders einsetzen könnte, lässt sich kaum widerlegen und entspricht gewissermassen dem Zeitgeist. Persönlicher Einsatz für ein abstraktes Allgemeingut wie «Sicherheit» ist zur Zeit nicht unbedingt populär. In Ländern wie den USA, Grossbritannien oder Frankreich besitzt Erfahrung beim Militär aber durchaus auch in Unternehmen einen hohen Stellenwert, denn sie verspricht Tugenden wie Selbstdisziplin, Ausdauer und Menschenkenntnis.

PRO: «Landesverteidigung ist gesamtgesellschaftliche Aufgabe »

Befürworter der Wehrpflicht führen an, dass es kaum eine gerechtere Variante gibt, als wenn alle jungen Leute gleichermassen einen persönlichen Einsatz für das hohe Gut der Verteidung und nationalen Unabhängigkeit leisten. Sie betonen den positiven Effekt auf die Gesellschaft von einem Dienst, der über alle sozialen Grenzen hinweg erbracht wird: Bäckers- und Bankerssohn müssen dann gemeinsam früh aufstehen und teilen eine sehr erfahrungsreiche Zeit ihres Lebens. So war zum Beispiel auch Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, Offizier der Schweizer Armee.

Wenn jeder Mann einmal direkt im Dienst seines Landes gestanden hat, so die Befürworter, stärkt das die Identifikation mit der Gesellschaft und dem eigenen Land. Ausserdem sei es von Vorteil, wenn dieses mächtige Exekutivorgan vom «Querschnitt» der Gesellschaft gebildet wird, insbesondere auch dann, wenn das Militär einmal im Innern eingesetzt werden muss.

PRO: «Wehrpflicht erhöht die nationale Handlungsfähigkeit»

In jedem Land ist das Militär das stärkste Organ der Exekutive und symbolisiert seit jeher die Stärke des Staates als solche. Die Wehrpflicht versetzt den demokratischen Staat in die Lage, bei einer akuten Bedrohung oder Notlage, schnell und unkompliziert Personal zur Bewältigung aufzubieten. Die theoretische Möglichkeit, im Ausnahmefall auch auf Reservisten, also Soldaten, die derzeit nicht im aktiven Dienst stehen, zurückzugreifen, hat zur Folge, dass der Staat als Organ nach innen wie nach aussen viel handlungsfähiger ist. Das wirkt sich natürlich auch symbolisch auf das Bewusstsein der Menschen aus. Umgekehrt wird eine Abschaffung der Wehrpflicht meistens von denen gefordert, die sich auch auf anderen Gebieten einen schwachen Staat wünschen.

PRO: «Wehrpflichtige profitieren langfristig von ihrem Dienst»

Wie bereits angeführt, werden während des Grundwehrdienstes Fähigkeiten vermittelt, die sich auch in der freien Wirtschaft wieder wachsender Beliebtheit erfreuen. Darunter sind Belastbarkeit, Disziplin, Teamfähigkeit, Führungserfahrung und die Fähigkeit, sich schnell in einem neuen Umfeld zu behaupten. Vorbei sind die Zeiten, in denen eine vorangegangene Ausbildung zum (Unter)offizier Voraussetzung war, um als Vorstandsmitglied einer Grossbank oder für das amerikanische Präsidentenamt überhaupt in Betracht gezogen zu werden. Doch in Zeiten, in denen soft skills für die berufliche Qualifikation von zunehmender Bedeutung sind, könnte auch die Bewertung des Wehrdienstes eine entscheidende Aufwertung erfahren.

Letztendlich liegt die Schwere der meisten Argumente im Auge des Betrachters. Die Diskussion über die Zukunft der Wehrpflicht ist keine einfache. Bei genauer Betrachtung der Argumente wird aber deutlich, dass weit mehr für die Wehrpflicht spricht, als man gemeinhin annehmen würde und dass die Argumente der Gegner schwächer sind, als sie auf den ersten Blick wirken. Die Schweiz hat in den vergangenen Jahren immer wieder den Mut bewiesen, einen eigenen Weg zu gehen bei Fragen, welche die nationale Handlungsfähigkeit und Souveränität betreffen. Auch bei der Diskussion zur Zukunft der allgemeinen Wehrpflicht sollte sie das Beschreiten eines eigenen Weges ernsthaft in Betracht ziehen.


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