Zwischen Selbstbefreiung und Zwang: Leben mit Ticks und Macken

Die Idealvorstellung von Freiheit – seinen eigenen Regeln zu folgen – kann schnell zum Gefängnis werden. Das ist B.s Geschichte.

Fast jeder von uns kennt ihn, diesen Moment des Zweifels; habe ich die Tür auch wirklich korrekt verriegelt, den Herd auch wirklich abgestellt? Dann lieber noch einmal nachkontrollieren, sich versichern, dass auch alles stimmt. Als kleines Kind waren es die Monster im Zimmer, die einen jeden Abend vor dem Schlafengehen ritualisiert noch einmal unter dem Bett nachschauen liessen; die Mäuerchen, welche die Strassen säumten und von denen runterzufallen, ein fiktives Verbrennen in der Hölle bedeutete. Fast schon spielerisch, harmlos und all- täglich kommen uns diese kleinen Macken vor. Doch was ist, wenn aus Ticks und Macken eine Krankheit wird?

Von kleinen Mustern zum Wiederholungszwang

B. hat am eigenen Leib erlebt, wie die kleinen Muster zu einem Wiederholungszwang wachsen können. An einem kühlen Sonntagabend treffe ich ihn auf ein warmes Getränk in einer Bar. Über die schwere Zeit zu sprechen, die jetzt glücklicherweise hinter ihm liegt, fällt ihm erstaunlich leicht. Ich brauche nur wenig nachzufragen.

Er bemerkte die ersten Anzeichen der Krankheit relativ schnell. Zuerst waren es bloss kleine Ticks, wie ein Stift, den er für einen besonderen Glücksstift hielt, oder dass es wichtig war, mit dem rechten Fuss aufzustehen. Wie er betont ganz unauffällige Dinge, Macken, die so auch noch nicht gefährlich sind. Doch aus diesen kleinen Auf- fälligkeiten hat sich dann eine Krankheit entwickelt. «Ich musste immer positiv denken. Eine positive Einstellung hilft uns bekanntermassen, besser an eine Sache heranzugehen. Doch ich hatte immer mehr das Gefühl, dass etwas nur klappen konnte, wenn ich diese Einstellung auch wirklich hatte.»

Im späteren Verlauf der Krankheit wurde das immer schlimmer. B. begann, seine Handlungen nach diesem positiven Denken auszurichten; das heisst, wann immer er ganz alltägliche Dinge tat. Wenn er einen Raum betrat, eine Hose anzog oder auch die Treppe runter ging, musste er positiv denken. Klappte dies auf einmal nicht, weil er abgelenkt war oder auch einfach nicht gut gelaunt, musste er das Ganze noch einmal wiederholen. Er ging aus dem Raum raus und wieder rein. Stieg die Treppen hoch und wieder runter.

Denke immer positiv!

Positives Denken war bei ihm verbunden mit der Visualisierung von bestimmten Bildern und der Fokussierung auf konkrete Gedanken. Wollte er etwa in der Schule eine gute Note erzielen, musste er das Gesicht des Lehrers stän- dig vor sich haben, da dieser als kompetente Autoritätsperson die passende Assoziierung für diesen Lernprozess darstellte. Ausserdem mussten die Lernnotizen nicht nur einmal unterstrichen werden, sondern sechsmal und mit der positiven Farbe grün, da nur so eine Bestnote erzielt werden konnte.

Es gab gemäss B. einen starken Konnex zwischen dem Lernen und seiner Krankheit. Er beschreibt sich als sehr ehrgeizig und auf seine schulischen Leistun- gen fokussiert, da er sich den Eintritt ins Gynasium als Ziel gesetzt hatte. Obwohl er ein guter Sekundarschüler war, haben ihm «nur» gute Noten bald nicht mehr gereicht, es mussten Bestnoten sein. Dementsprechend war ein grosser Aufwand nötig. Diese Hintergründe erklären auch, wieso der schulische Druck oder allgemein jeglicher Lerndruck die Krankheit nur noch verschlimmert haben.

Richtig störend wurde es aber erst drei Monate vor dem Klinikaufenthalt. Plötzlich nahmen die Zwänge immer extremere Ausmasse an. Wollte B. um elf Uhr ins bett gehen, war er um vier Uhr morgens immer noch mit den Wiederholungen beschäftigt. Auch sein direktes Umfeld litt unter der Situation. Hatte er einen negativen Gedanken und ein Nahestehender nannte seinen Namen, war dies kein gutes Zeichen und die betreffende Per- son musste den Namen noch einmal wiederholen.

Wie ein Krebs

Der Alltag von B. war in all seinen Facetten von den Wiederholungen kontrolliert: aufstehen, frühstücken, in die Schulen gehen, lernen, ein Glas Wasser trinken und zu Bett gehen. In der Schule versuchte er, den Zwang so gut es ging zu unterdrücken. Da dort der Alltag unbeständiger verlief, war es auch einfacher, nicht in repetitive Muster zu verfallen. Doch zu Hause wurde den Zwängen ein fruchtbareres Bio- top geboten.

Nach ein paar Besuchen bei einer Therapeutin wurde B. schon bald stationär behandelt. Die Klinik war aber zuerst mit der Intensität von B.s Krankheit überfordert. Es brauchte seine Zeit, bis die Behandlung entsprechend angepasst werden konnte. Sie erfolgte dann vor allem durch Gesprächstherapie. «Die Krankheit war wie ein Krebs, den man eindämmen musste. Sie war wie ein Virus, der sich immer mehr ausgebreitet hatte. Meinen eigenen Mustern zu folgen, glich dem Konsum einer Droge. Ich habe mich dann immer so sicher gefühlt.

Ein eigenes Gefängnis geschaffen

Es war einfach ein befriedigendes Gefühl, wenn ich den Zwängen nachgeben konnte.» Jeder Patient hat sein eigenes Gebäude von Mustern, Abläufen, Gedanken und Bildern, welches er befolgen muss; «muss», weil irgendwann die selbst geschaffenen Regeln beginnen, den Erschaffer zu kontrollieren. B.s Therapeut war ein lockerer Typ in Freizeitkleidung, der gerne auch vulgäre Ausdrücke benutzte und vielleicht gerade wegen seiner unkonventionellen Art dazu prädestiniert war, B zu helfen. B. begann, sich wohlzufühlen und arbeitete seine Muster selber in der Therapie in kleinen Schritten auf. Er analysierte sein von sich selbst aus Wiederholungen geschaffenes Gefängnis und überwand so die Krankheit.

Heute hat B. seine Lehre und Berufsmatur abgeschlossen und spielt sogar mit dem Gedanken, ein Studium zu beginnen. Er steht dem Lernen aber mittlerweile zwiespältig gegenüber, obwohl er nicht glaubt, dass bei ihm eine Rückfallgefahr besteht. Er meint sogar, dass die ver- gangene Zeit ihn auch positiv formen konnte. Er kenne sich und seine Psyche nun viel besser und könne aufkommenden Mustern in Zukunft gezielt entgegenwirken. Ausserdem schätze er seine Gesundheit und sozialen Kontakte viel mehr.

Durch seine Krankheit habe er gelernt, worauf es ihm Leben wirklich ankomme. Betroffenen empfiehlt er, sich möglichst früh schon in spezialisierte Hände zu begeben. Man solle die Krankheit ernst nehmen und den Kontakt zu Leuten suchen, welche das Ganze schon durchlebt haben. Bekannte sollten Fortschritte in der Behandlung des Betroffenen gezielt loben und ihn so ermutigen, den schweren Weg weiterzugehen und sich so zurück in die Freiheit zu kämpfen.

Bild: Livia Eichenberger

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