Melodien gegen Tränengas

Das Chaos und die Unruhe gesellschaftlicher Umbrüche, wie sie Ägypten und die Türkei in den letzten Wochen erlebt haben, bringen immer wieder erstaunliche Persönlichkeiten hervor, die mit Mut und Engagement für ihre Anliegen eintreten, Selbstlosigkeit und Toleranz leben und damit der Hoffnung eine Stimme geben. Einer von ihnen ist Davide Martello, ein Konstanzer Strassenmusiker, der dem Erdogan-Regime in der Türkei die Stirn bot.

Seit 2011 reist der 31-jährige, gelernte Friseur um die Welt, fährt mit seinem VW Vento auf die grossen Plätze von ebendieser, setzt seinen Hut auf, kurbelt den selbst umgebauten Flügel an einer Seilwinde aus dem Anhänger und beginnt zu spielen. Noten braucht er keine. Einen Teil der Kunst – die seiner Tasten – bringt er mit, doch das, was Davide’s Spiel so einzigartig macht, wartet jeweils schon längstens auf ihn: Die Umgebung, die Atmosphäre eines Konzerts sei mindestens so wichtig wie die Musik selbst, betont er. An diesem lauen Sommerabend soll es München sein, vor der ehrfürchtigen Feldherrenhalle am Odeonsplatz, wo vor 90 Jahren Hitler’s erster Putschversuch ein abruptes und folgenreiches Ende fand. Ein schweres Erbe, das sich gänzlich in den ersten Akkordeon seiner Klavierkunst niederschlägt, sich dann aber schnell zur beflügelt leichten Melodie entwickelt, welche die Zuhörer scharenweise aus den Gassen lockt.

Nicht ganz so einfach muss dieses Unterfangen auf dem Taksim-Platz gewesen sein. Als Davide im Juni – gerade auf dem Weg von Sofia zurück nach Deutschland – von den Bürgerprotesten in Istanbul hörte, entschloss er sich kurzum, einen Umweg über die Türkei zu machen. Buchstäblich zwischen Steinewerfern und Polizisten mit Wasserwerfern und Tränengas habe er sein Piano auf dem mit Schutt bedeckten Platz aufgestellt. Innerhalb von Minuten versammelten sich Hunderte Menschen um den Konstanzer Pianisten, Polizisten lauschten seinem Spiel, wütende Demonstranten stimmten in „Let it be“ mit ein, tanzten, sodass er die ganze Nacht, ja mehrere Nächte, durchspielte. – Bis es den türkischen Beamten zu bunt wurde und sie Davide samt Auto und Instrument beschlagnahmten.

Auch wenn es zurück in Zentraleuropa ruhiger zugeht, die sonst so gestressten Zuhörerinnen und Zuhörer bleiben stehen, lauschen gespannt, wirken plötzlich ganz verträumt oder neu verliebt, klatschen verhalten freundlich – ganz zur Freude des jungen Musikers, der verlegen lächelt und sogleich mit dem nächsten, irgendwo auf der Welt komponierten Song fortfährt. „Ich spiele zwar hier, doch meine Gedanken sind in Ägypten“, gibt er vorher noch zu bedenken. Beim sanften Klang des Pianos vergisst man die Zeit auf dem immer kälter werdenden Kopfsteinpflaster. Es scheint mir, als wären alle 200 Menschen (um nicht zu sagen Wirtschaftssubjekte), die zusammen mit mir in den dunkel verhüllten Platz hineinlauschen, ebenso ergriffen vom Idealismus, der den meisten von uns irgendwie abhanden gekommen ist.

Inzwischen ist Davide Martello weitergezogen, unterwegs durch Europa, wo er die Menschen mit seiner Musik zu Demokratie und Dialog auffordern will. Der Dialog mit den Städten, ihrer Architektur und ihren Menschen gelingt ihm jedenfalls ausgezeichnet – jener mit der Polizei, die sein Konzert tags darauf in Tübingen wegen fehlender Bewilligung durch die Behörden unterbricht, hat noch Potenzial nach oben. Nichtsdestotrotz, ein Abstecher zu einem der „Klavierkunst“-Konzerte sei wärmstens empfohlen. Sie werden jeweils ein paar Stunden zuvor auf der Facebook-Seite  angekündigt.




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