Der EFTA-Gerichtshof – der kleine Bruder des EuGH

Im Zug der Bekämpfung des Tabakmissbrauchs hat Norwegen ein Verbot erlassen, Tabakwaren sichtbar auszulegen. Mit weitreichenden Folgen.

Auf Vorlage des von Philip Morris angerufenen Stadtgerichts Oslo hat der EFTA-Gerichtshof im Herbst 2011 entschieden, dass diese Massnahme möglicherweise eine Beschränkung des freien Warenverkehrs darstellt, die nur gerechtfertigt werden kann, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Jener seit dem 1. Januar 1994 bestehende EFTA-Gerichtshof in Luxemburg ist zur Entscheidung von Rechtssachen zuständig, die ihren Ursprung im EFTA-Pfeiler des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) haben. Er urteilt insbesondere über Klagen der EFTA-Überwachungsbehörde (EFTA Surveillance Authority, «ESA») gegen einen der drei dem EFTA-Pfeiler angehörenden Staaten (Norwegen, Island und Liechtenstein) wegen einer behaupteten Verletzung des EWR-Abkommens, über Vorabentscheidungsersuchen von nationalen Gerichten aus den drei genannten Ländern und über Nichtigkeitsklagen gegen Entscheidungen der ESA in Wettbewerbs- und Beihilfesachen. Das EWR-Abkommen hat im Weiteren das Binnenmarktrecht der EU, das heisst die vier Grundfreiheiten*, das Wettbewerbs- und Beihilferecht und das sekundäre Wirtschaftsrecht, übernommen. Unternehmen und Private aus den beteiligten EFTA-Staaten haben einen diskriminierungsfreien Zugang zum Binnenmarkt.

Der EFTA-Gerichtshof besteht aus drei Richtern, die von den einzelnen Mitgliedstaaten nominiert und von allen drei Staaten durch gemeinsame Übereinkunft auf sechs Jahre ernannt werden, wobei Wiederernennungen möglich sind. Die ESA und der EFTA-Gerichtshof sind Parallelinstitutionen zur EU-Kommission und zum EuGH; Kommission und EuGH sind auch EWR-Organe. Das im EFTA-Pfeiler geltende EWR-Recht entsteht aus EU-Recht. Die EFTA-Staaten haben bei der Schaffung neuen EU-Rechts ein gestaltendes Mitwirkungsrecht. Das EWR-Recht ist deshalb mit dem EU-Recht inhaltsgleich. Seine uniforme Auslegung in beiden Pfeilern des EWR wird durch besondere Homogenitätsregeln sichergestellt. Danach soll der EFTA-Gerichtshof grundsätzlich der Rechtsprechung des EuGH folgen. In den meisten Fällen hat der EFTA-Gerichtshof aber neue Rechtsfragen zu entscheiden. Er hat deshalb erheblichen Einfluss auf die Rechtsprechung des EuGH. Beispiele sind Fälle betreffend Fernsehen ohne Grenzen, rechtliche Konsequenzen des Betriebsübergangs, Zulässigkeit von Staatsmonopolen für Alkohol, Tabak und Glücksspiel, Modalitäten der Automobilversicherung, Besteuerung von Outbound-Dividenden, Anerkennung des Vorsorgeprinzips im Lebensmittelrecht, Rechtsfragen des Umpackens von Pharmazeutika oder Fragen zur Rechtsnatur einer Website. Die in der Schweiz nicht unbekannte Generalanwältin am EuGH, Verica Trstenjak, spricht von einem «einzigartigen gerichtlichen Dialog». Im Wettbewerbsrecht hat sich der EFTA-Gerichtshof im April 2012 als erster Gerichtshof im EWR vollumfänglich der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zum Recht auf ein faires Verfahren angeschlossen. Am 18. September 2012 hat die mündliche Verhandlung im Fall Icesave stattgefunden, in dem es um die Frage geht, ob Island für den Schaden haftet, den eine isländische Internetbank in Grossbritannien und den Niederlanden angerichtet hat.

Zu Justizkonflikten ist es im EWR bislang nicht gekommen. Der EFTA-Gerichtshof hat aber seine eigene Kultur entwickelt. Nach dem Urteil von Beobachtern wird sie vor allem durch Schnelligkeit, Offenheit, Liberalität bei der Zulassung von Intervenienten, Dienstleistungsorientiertheit und einen weniger auf Dekretieren als auf Erklären angelegten Urteilsstil charakterisiert. Da sich der bilaterale Weg der Schweiz mit der EU dem Ende entgegenneigt, sollte man sich hierzulande Gedanken über einen EWR II machen. Das EWR-Nein vom 6. Dezember 1992 wäre gegebenenfalls zu revidieren. Zum einen sind die Institutionen des EFTA-Pfeilers unter tatkräftiger Mitwirkung von Schweizer Unterhändlern geschaffen worden. Zum anderen hat sich gezeigt, dass die ESA und insbesondere der EFTA-Gerichtshof souveränitätsschonende Funktion haben und sich teils mit wichtigen Fragen wie etwa der eingangs erwähnten beschäftigen.

*Diese beinhalten den freien Warenverkehr, die Personenfreizügigkeit, die Dienstleistungsfreiheit und den freien Kapital- und Warenverkehr.

Zur Person

Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. h.c. Carl Baudenbacher ist Präsident des EFTA-Gerichtshofes und Direktor des Instituts für Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der HSG.


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