Für einen Abend unsichtbar

Nichts zu sehen ist für die meisten eine Horrorvorstellung und doch gibt es Orte, an denen man sie erfahren kann: die vollkommene Dunkelheit, das Nichts um einen herum. prisma testet für euch die absolute Finsternis.

Als wir an einem Mittwochabend ein wenig verunsichert eintreten, warten schon einige Gäste an der Rezeption des Dunkelrestaurants Blindekuh in Zürich. Es liegt eine gewisse Anspannung in der Luft, noch einmal schnell auf die Toilette und schon werden wir von Rita, unserer Begleiterin und Bedienung für heute Abend, hineingebracht in das Ungewisse, die Dunkelheit, das visuelle Nichts.

«Wenn Leute die Dunkelheit nicht ertragen, merken sie das meist schon beim Reingehen», erklärt uns Rita. Auch mir wird in den ersten Minuten, in denen wir am Tisch sitzen, ein wenig mulmig. Wann sind wir Kontrollfreaks schon mal so angewiesen auf einen Fremden? Doch diese Angst legt sich, wie bei fast allen Gästen, schnell und weicht einem Gefühl grosser Freiheit, denn absolute Dunkelheit bedeutet auch, nicht gesehen zu werden. Die unheimlich leckere Salatsosse vom Teller schlecken, bequem mit angezogenen Beinen und buckligem Rücken auf dem Stuhl sitzen oder ungehemmt mit dem Partner rumknutschen – all das lassen wir für gewöhnlich, wenn wir in der Öffentlichkeit essen. Doch hier herrscht Narrenfreiheit! Es ist interessant zu bemerken, wie unheimlich wichtig es uns ist, ob wir gesehen werden; ob wir gehört werden, ist uns relativ egal. Wer hat nicht schon, kaum hat derjenige sich weggedreht, lauthals über jemanden gelästert?

Ort der Begegnung

Gegründet wurde die Blindekuh 1999 und unterhält heute zwei Restaurants in Zürich und Basel. Ziele der Initiatoren waren die Schaffung von Arbeitsplätzen für Menschen mit Sehbehinderung und die Förderung des Dialogs zwischen Sehenden und Nichtsehenden. Diese für uns ungewohnte Situation, vollkommen auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, ist für blinde Menschen nichts Aussergewöhnliches. Bei einem Besuch in der Blindenkuh werden die Rollen getauscht und einmalige Erfahrungen gesammelt. Manchen Gästen falle es schwer, zu vertrauen, erzählt uns Rita. Sie klammerten sich an ihre Schultern, als würde sie jeden Moment verschwinden. Eine spezielle Ausbildung braucht niemand, um in der Blindenkuh zu arbeiten. Am Anfang gehe man einfach mit: learning by doing. Rita selbst hatte schon vorher Erfahrung: Sie arbeitete schon mit 16 im Service, damals aber noch als Sehende. Ist das Restaurant in Zürich voll, bedienen drei Mitarbeiter 80 Gäste – für uns, die wir nicht mal das Glas auf dem Tisch finden, ganz schön beeindruckend.

Marroni mit Kirschen statt Kürbis-Karotte

Zunächst bekommen wir Suppe in einem kleinen Glas, vermutlich damit wir nicht schon zu Beginn alles vollkleckern. Schnell sind wir uns einig, was wir da essen: Kürbis-Karotten-Suppe. Schliesslich sind wir als ausgewiesene Feinschmecker doch nicht auf unsere Augen angewiesen! Nun ja, Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall, denn Maroni mit Kirschen sind wohl doch etwas anderes.

Unser Geschmackssinn ist also nicht über sich hinausgewachsen, aber zumindest hören wir viel mehr als sonst: Das Klappern von Besteck auf den Tellern, die Schritte der Mitarbeiter, das Knarzen der Stühle, wenn sich ein Gast bewegt. Kaum werden die Augen unbrauchbar, konzentriert sich unsere Wahrnehmung auf all die Geräusche, die wir sonst ausblenden. Umschauen tun wir uns dennoch ständig, so schnell gibt unser Gehirn die Hoffnung auf Licht anscheinend nicht auf.

Richtig schwierig wird das Essen, als wir unseren Nüsslisalat bekommen. Wie sollen wir nur unsichtbare Croutons mit der Gabel aufspiessen? Nach einigen Versuchen geben wir auf und nehmen unsere Hände zur Hilfe – sieht ja keiner. Kann man sich seine Portion anschauen, braucht man auch so viel, um sich satt zu fühlen; doch wer seine Portion nicht sieht, der isst so viel, wie ihm eigentlich genügt. Und so sind wir nach der Suppe und dem Salat schon vollkommen zufrieden.

Diskreter Augenkontakt nicht möglich

Langsam macht sich der Handyentzug bemerkbar. Normalerweise würden wir nach so viel Konversation die Zugverbindung nach Hause checken, doch jetzt müssen wir tatsächlich mal wieder unser verstaubtes Gehirn in Gang bringen und überlegen, wann denn der Zug fährt, den wir schon tausendmal genommen haben. Nur um dann darauf zu stossen, dass wir ja gar nicht wissen, wie viel Uhr es ist. Und auch die hier geschilderten Eindrücke, können wir uns nicht einfach notieren – wer nichts sieht, muss sich alles merken.

Als wir uns entschliessen, zu gehen, taucht das nächste Problem auf: Wir können nicht einfach diskreten Augenkontakt aufnehmen, wie sonst in einem Restaurant – wir müssen Rita rufen. Doch da wir überhaupt keine Ahnung haben, wie gross der Raum ist und wie weit weg sie sich befindet, können wir auch nicht einschätzen, wie laut wir rufen müssen.

Und so sitzen wir da, trauen uns nicht und kichern wie Zwölfjährige. Nachdem wir es irgendwann doch geschafft haben, wird uns draussen auf einem Plan noch gezeigt, wo wir sassen: Mitten in der Mitte, obwohl wir davon überzeugt waren, uns ganz am Rand des Raumes zu befinden. Wir staunen, wie oft uns unsere Sinne heute Abend im Stich gelassen haben.

Bilder: Alexandra Furio


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