«Mir ist nie eine Sekunde langweilig»

Der Professor, den wir alle aus dem Assessment kennen, ist vielseitig, begeisterungsfähig und mit Arbeit, Hobbys und Reisen immer voll ausgelastet. Für die Zukunft der HSG hat er viele Vorschläge – und für die Studenten einen wichtigen Rat.

Wir treffen Johannes Rüegg-Stürm an einem warmen Sommerabend im Garten seines Hauses auf dem Rosenberg. Er bietet Wein, frisches Brot, Schinken und verschiedene Delikatessen an. Gutes Essen zähle zu seinen Hobbys, erzählt er uns, genauso wie «Aussichtssportarten» wie Biken, Wandern, Berg- und Skitouren. Ebenso interessiert er sich für das Art-House-Cinema, das im Kinok gezeigt wird, spielt Querflöte und baut mit seinen erwachsenen Kindern eine alte Modelleisenbahn neu auf. Dass ihm, laut eigener Aussage, nie eine Sekunde langweilig ist, liegt aber auch an seinem engagierten Einsatz an der und für die HSG.

Verbundenheit mit der HSG

Sowohl sein Diplom- und sein Doktoratsstudium als auch seine Habilitation absolvierte er an der Universität St.Gallen. Für die HSG entschied er sich damals, da er über seinen Vater, der eine leitende Funktion in der Textilbranche innehatte, schon früh mit wirtschaftlichen Themen in Berührung gekommen war. Dass man aber Wirtschaft überhaupt studieren könne, das habe er nicht gewusst. Eine ebenso hilfreiche wie denkwürdige Informationsveranstaltung in Zürich, an der sich verschiedene schweizerische Universitäten präsentieren konnten, habe letztendlich den Ausschlag für die HSG gegeben:

«Nachdem die Vertreter aller anderen Unis gesprochen hatten, verkündete der Repräsentant der HSG mit einer für mich völlig überraschenden Arroganz, dass wir alles, was wir soeben gehört hätten, vergessen könnten – für ein Wirtschaftsstudium in der Schweiz gäbe es nämlich nur eine wirklich qualifizierte Hochschule, die in St.Gallen. Nachdem ich nach dieser eher abschreckenden Präsentation verschiedene Studienpläne verglichen hatte, entschied ich mich dann aber tatsächlich doch für die HSG.»

Besonders geprägt wurde die Studienzeit des Professors durch Hans Ulrich, der massgeblich an der Entwicklung des St.Galler Systemansatzes beteiligt war. Ulrich sei bestrebt gewesen, die Komplexität unternehmerischer Tätigkeit wirklich ernst zu nehmen. Er habe auf damals geradezu revolutionäre Weise beschrieben, worum es bei Executive Management eigentlich wirklich gehe. Dass die Fähigkeit zur möglichst einfachen, aber dennoch sprachlich differenzierten Darstellung der relevanten Vorgänge in einer Organisation von immenser Wichtigkeit für Wissenschaft und Praxis ist, davon ist Rüegg- Stürm mehr denn je überzeugt. Das allen Assessis bekannte blaue Buch (bis vor einigen Jahren bekannt als die «Grüne Bibel») von letztem Herbst sei deshalb nochmals komplett überarbeitet worden: «Wenn die verwendeten Begrifflichkeiten von den Lesern am Schluss als eine Art unverständlichen Wust wahrgenommen werden, geht das natürlich nicht.» Die Systematik des Lehrbuchs wurde grundlegend überarbeitet und die Sprache vereinfacht, indem Adjektivorgien gestrichen wurden. Abstriche bei der Substanz wurden dabei keine gemacht.

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Zwischen Theorie und Praxis

Nach Abschluss des Doktoratsstudiums begann für den Professor eine vierjährige Praxisphase bei Ciba Geigy. Für die Habilitation kam er dann aber ohne zu zögern zurück. «An der Universität können unternehmerische Entwicklungen sorgfältig analysiert und auch relevante Sinnfragen diskutiert werden. Das ist in der Praxis nicht so ohne weiteres möglich», erklärt er.

Da persönliche Eindrücke und Erfahrungen für die Erkenntnisgewinnung sehr wichtig seien, spricht sich Rüegg-Stürm durchaus für praktische Tätigkeiten von Lehrenden aus. Zwischen Wissenschaft und Praxis gebe es in der Wirtschaft eine viel zu grosse Lücke. «Mandatsfunktionen», erklärt er, «bedeuten, konkrete Verantwortung in einer Firma zu übernehmen und Respekt für die voraussetzungsreichen Prozesse zu entwickeln, die in ihr ablaufen.» Er selbst ist Verwaltungsratspräsident der Schweizer Raiffeisen Gruppe mit über 10000 Mitarbeitenden. Eine solche Funktion wahrzunehmen, sei gleichermassen inspirierend und beanspruchend. «Mit einer Vierzigstundenwoche geht das nicht», lacht er. Unter der Woche sei er an der Universität und in der Bank beschäftigt, der Samstag diene der Lektüre von Arbeiten der Studenten, der Beantwortung von Mails und allem, was sonst noch angefallen sei. Der Sonntag bleibe nach Möglichkeit frei, um Zeit für Hobbys und Familie zu haben.

Das Assessment abschaffen – rhetorisch!

Wie ist es nun also, nach einer eigenen Studentenlaufbahn an der HSG auf der anderen Seite des Audimax zu stehen? «Was mir von meinem Naturell am meisten liegt, ist, zusammen mit Teams etwas zu entwickeln. Dass mir im Audimax jetzt 700 Studenten in einer Einweg-Kommunikation zuhören müssen, ist für mich ein Alptraum», meint Rüegg-Stürm. Dass es bei einer so grossen Menge an Zuhörenden nicht möglich sei, direktes Feedback zu bekommen, unterscheidet die Praxis von einer Vorlesung.

Die Assessmentvorlesung liegt ihm aber trotzdem sehr am Herzen. Die Assessmentstufe sei genial für Studierende, um sich fundamentale Wissensbausteine anzueignen. Zumindest rhetorisch würde er das Assessment aber lieber abschaffen und das gesamte Bachelor-Studium noch viel stärker als integrierte Bildungseinheit konzipieren. «Eine grosse allumfassende Abschlussprüfung ähnlich des Staatsexamens für Juristen oder Ärzte am Ende der Bachelorausbildung würde das integrative Lernen fördern und vermeiden, dass ein Thema nach dem anderen gelernt, abgehakt und leider rasch wieder vergessen wird.» Problemstellungen in der Praxis hielten sich zudem in keiner Weise an Disziplingrenzen.

«Führung kann man nicht outsourcen»

Dass viele Studierenden der Universität St. Gallen das Gefühl haben, keine Zeit für das Vertiefen von Studienschwerpunkten oder für Interessen zu haben und penibel auf perfekte Notenschnitte und lückenlose Lebensläufe achten zu müssen, sei aber auch einer zu starken Karriereorientierung und dem überproportional vertretenen Wunsch geschuldet, in der Beratung tätig zu werden. Der Professor meint: «Vor allem Strategieberatung ist extrem problematisch. Es ist häufig das Outsourcen der eigenen Unfähigkeit, mit Ungewissheit umzugehen und gemeinsam tragfähige Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen.» Existenzkritische Entscheidungen müssten aber immer von den verantwortlichen Führungspersonen selber erarbeitet und gemeinsam getroffen werden, sonst gehe ihre Führungslegitimität verloren. «Führung kann man nicht an die grossen Beratungsunternehmungen outsourcen, auch nicht verdeckt»,stellt er klar. Allen Studierenden würde er deshalb empfehlen, über ein Praktikum direkt in eine konkrete Firma einzusteigen und möglichst rasch unternehmerische Verantwortung zu übernehmen.

Schliesslich sei der Wert des Studiums aber immer der, den man ihm selbst gibt, meint Rüegg-Stürm. Dazu ist natürlich auch eine grosse Portion Begeisterungsfähigkeit notwendig. Aber: «Alles hat seine Zeit, sonst wird die Begeisterungsfähigkeit für zu vieles zum Problem. Wie guter Wein entsteht Gutes nur durch Beschränkung und Konzentration.»

Steckbrief Johannes Rüegg-Stürm:

Geburtstag: 24. Juni 1961
Hobbys: gutes Essen, Berg- und Skitouren, Biken
Lieblingsfilm: School of Rock, Des Hommes et des Dieux, Phoenix


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