Multioptionsgesellschaft: Freie Wahl oder schon gefangen?

Wir wählen unsere Zukunft frei. Und doch ist die propagierte Freiheit ein Scheinbild – heute halten uns Erwartungen und Verantwortung gefangen.

Wir sind frei in unserer Konfession, in unserem Charakter und unseren Zukunftsplänen. Uns stehen nicht nur drei Türen offen, sondern Hunderte. Wir sind eine verwöhnte Generation, für die freie Auswahl nicht mehr Luxus, sondern Grundrecht geworden ist. Und doch – wie frei sind wir wirklich in diesem System? Fühlen wir uns freier als Generationen vor uns? Werden wir noch gefragt oder schon überfordert?

Die scheinbar freie Wahl

Selbstverwirklichung funktioniert nicht ohne freie Entscheidungen, sie ist schon fast Prestige geworden. Ein neues Schlachtfeld, bei dem es gilt, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Jede Option birgt Erwartungen, Verantwortung, Rechtfertigung. Viele unserer Entscheidungen treffen wir für die Anderen, nicht für uns selbst. Wir treffen sie für Eltern, für unser Umfeld, das uns dafür respektiert oder gar bewundert. Für einen netten Lebenslauf. Wir haben die freie Auswahl, frei in unseren Entscheidungen sind wir aber deswegen nicht. Oder in Rousseaus Worten: «Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.»

Zurück auf Anfang

Multioptionsgesellschaft
Multioptionsgesellschaft

Noch bevor wir etwas beginnen, sollten wir wissen, ob es uns liegt und wohin es uns führt. Denn wenn wir durch eine Tür gehen, dann fallen 99 hinter uns zu. Stillstand oder gar Rückschritt wird von unserem System nicht propagiert oder toleriert. Der rote Faden ist nicht mehr ein Nebenprodukt, er ist die Nabelschnur unserer Gesellschaft geworden. In unserem Spiel des Systems kommen wir nicht zum Ziel, wenn wir immer wieder zurück auf Anfang fallen. Jede Option, die wir wählen, muss ein Schritt nach vorne sein. Je mehr Optionen wir jedoch haben, desto eher können wir eine Falsche wählen, uns verlieren.

Überforderung und Unschlüssigkeit sind keine gefragten Kompetenzen. Also versuchen wir so zu wirken, als wüssten wir, was wir tun, getreu dem Motto: «Fake it ’til you make it.» Nur wenigen wagen den Sprung zurück auf Anfang. «Quereinsteiger» ist vielleicht in der einen oder anderen Erfolgsrede ein romantisierter Begriff , bleibt aber ein Stie ind unseres Systems. Ein Neubeginn ist ein Kraftakt. Den roten Faden zu kappen und einen neuen zu spinnen, bedeutet, einen Moment lang im freien Fall zu sein.

Dies ist kein Plädoyer für weniger Entscheidungsfreiheit. Wir sind privilegiert, keine Frage. Jedoch kommen mit den Privilegien auch Verantwortung, Erwartungen und Druck – nicht unbedingt Elemente einer Freiheitsdefinition. Am Ende müssen wir unsere Entscheidungen vor allem vor einem verantworten – vor uns selbst. Es ist leicht, durch eine falsche Tür zu gehen und sich auch mal zu verlieren. Die Schwierigkeit liegt darin, einen Schritt zurück zu wagen.


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