Zu den Nebenwirkungen eines totgeglaubten Mediums

Die Stuhllehne ist unangenehm heiß. Das weiße Plastik saugt die Hitze Senegals auf. Zu stören scheint es den Mann aber nicht, ihm nicht einmal aufzufallen. Er schaut auf den Fernseher in der Ecke, vor dem sich einige Kinder tummeln. Der Mann und die anderen Erwachsenen registrieren die kleinen Struwelpeter erst als ihre Mähnen ins Bild ragen und das Geschehen auf dem Bildschirm unterbrechen.

Senegal, an der Westküste Afrikas, ist ein Entwicklungsland: Über die Hälfte seiner Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze, die Analphabetenquote liegt bei rund 60 Prozent. Ein Zeitvertreib, der hier immer mehr Menschen anzieht, ist das Fernsehen. In der westlichen Welt als überholtes Medium bezeichnet, wächst seine Beliebtheit in Schwellen- und Entwicklungsländern weiterhin an.

Fernsehen: beliebter als Internet

Statistiken der Weltbank zufolge ist es in 1,1 Milliarden Haushalten präsent. Konkreter: Auf durchschnittlich vier Personen kommt ein Fernsehgerät. Damit frönen dem TV potentiell mehr Nutzer als dem Internet mit seinen 1,6 Milliarden. Allein den Rettungsschwimmern von „Baywatch“ folgten über eine Milliarde Zuschauer in die Fluten. Laut dem Guinness Buch der Rekorde ist die US-Serie die beliebteste Fernsehshow der Welt – Menschen aus 148 Ländern haben sie bislang geschaut. Das Strandspektakel steht nicht alleine da, denn nordamerikanische TV-Dramen und Soap Operas sowie ihre südamerikanische Verwandte, die Telenovela, werden in rund 140 Ländern konsumiert, darunter auch im Senegal.

„Die Serien üben dort einen heilsamen Effekt aus und können Verhaltensweisen ändern“, glaubt Charles Kenny von der Weltbank in Washington DC. Die Fernsehprotagonistinnen stünden dabei für das weibliche Publikum Vorbild, so der Entwicklungsökonom. Laut Kenny verfügen die vermeintlichen Musterfrauen über eine gute Ausbildung, ehelichen ihre fiktiven Partner weder verfrüht noch unüberlegt und ziehen kleinere Familien vor. Außerdem üben die weiblichen Hauptcharaktere häufig Berufe aus, die mit hoher Verantwortung und Autorität einhergehen, wie in „Amor en Custodia“. Die mexikanische Serie handelt von der Geschäftsfrau Paz Achával Urién und wurde in ihrem Entstehungsland mit 11 Staffeln länger als jede andere Serie ausgestrahlt.

Edutainment in Mexiko

Doch in Mexiko ist bereits im Jahre 1975 eine widerspenstige Zähmung geglückt: Neben inhaltlich umstrittenen Kommerzserien flimmerte damals Edutainment über die Schirme, das auf Miguel Sabidos Konzept der „Soap Opera for Social Change“ beruht. Die erste Sendung des Fernsehproduzenten, „Ven Conmigo“, adressierte das Problem des Analphabetismus. Während der Ausstrahlung der Serie meldeten sich fast eine Million Mexikaner zu Schreib- und Leselernkursen an. Zwischen 1977 und 1986, als Sabidos zweite Serie, „Acompaname“, zur verantwortungsbewussten Familienplanung aufrief, fiel wiederum die Geburtenrate um 34 Prozent. Ob diese Entwicklung der Identifikation mit den Serienprotagonisten entspringt oder dem Umstand, dass die Mexikaner eine Liebe auf dem Bildschirm der eigenen Zweisamkeit vorzogen, bleibt unklar.

Die Herstellung kausaler Zusammenhänge zwischen Fernsehshows und einzelnen gesellschaftlichen Veränderungen gilt Wissenschaftlern als Herausforderung, wollen sie feststellen, ob TV als Katalysator des sozialen Wandels in Aktion tritt. Dabei können ihnen voreilige Schlüsse unterlaufen, wie beispielsweise in einer Untersuchung aus dem Jahr 2008: In ihrer Studie stellen Robert Jensen und Emily Oster den vermeintlich kausalen Zusammenhang zwischen Serienkonsum und einem verbesserten Status der Frauen in fünf Distrikten des indischen Bundesstaates Tamil Nadu her. Die dortigen Bewohnerinnen, resümieren die Forscher, wollten unter anderem generell weniger Kinder und hegten eine schwächere Vorliebe für Söhne.

„Wir sind der Meinung, dass unsere Beobachtungen nicht von prä-existenten, anderen Entwicklungen angetrieben werden“, fügen die Wissenschaftler hinzu. Oster und Jensen thematisieren jedoch nicht, dass Tamil Nadu einer der wirtschaftlich stärksten indischen Bundesstaaten ist, mit einer Industrie, die seit Jahren wächst – dass Frauen hier weniger Kinder wünschen, kann beispielsweise durch ihre zunehmende Berufstätigkeit und die damit verbundenen Veränderungen ihres Alltags bedingt sein, nicht durch die Unterhaltung auf dem Bildschirm.

Tabus und Kontroversen

Sicher dagegen ist, dass das Fernsehen die Thematisierung gesellschaftlicher Tabus und Kontroversen ermöglichen kann, beispielsweise in China, wo die Ausstrahlung der Serie „Bai Xing“ die Verbreitung von HIV sowie die Behandlungsmöglichkeiten von Aids offen legte. Dabei standen den Serienmachern die Experten von PCI-Media Impact zur Seite, einer Nichtregierungsorganisation, die sich im Jahr 1985 dem Motto „Telling Stories, Saving Lives“ verschrieben hat und heute mit Fernsehproduzenten  in 27 Ländern zusammenarbeitet, um neben AIDS-Aufklärung beispielsweise auch die Auseinandersetzung mit Menschenrechten in die Handlungsstränge verschiedener TV-Formate einzubauen.

Duchsetzung von Rechten und Selbstverwirklichung

Eine indirekte Forderung nach den elementaren Rechten impliziert ebenfalls eine andere Sendung: „Afghan Star“, eine Show ähnlich „Deutschland sucht den Superstar“ und „Popstars“. Laut Human Rights Watch riskieren die Kandidaten in Afghanistan mit öffentlichen Auftritten ihr Leben, besonders die weiblichen Bewerberinnen – ein Umstand, der den Erfolg der Sendung nicht schmälert: Vier Staffeln und ein Film über „Aghan Star“ könnten eine wachsende Akzeptanz der Zuschauer gegenüber der individuellen Selbstverwirklichung der Kandidaten vermuten lassen und von internationalen Beobachtern als Anhaltspunkt für Veränderungen innerhalb der Gesellschaft gedeutet werden.

Entscheidend ist aber nicht nur, welchen Sendungen die Zuschauer frönen, sondern wo sie es tun: „Über das Fernsehen in Ägypten, Indien oder Mexiko zu schreiben, bedeutet über die Artikulation des Internationalen, Nationalen, Lokalen und Persönlichen zu berichten“, sagt die Anthropologin Lila Abu-Lughod. Sie appelliert wie die renommierte Forscherin für Cultural Studies Ien Ang zugunsten der „radikalen Kontextualisierung des Publikums“: Wenn ein Zuschauer wie sein Lieblingscharakter beispielsweise lesen und schreiben lernen möchte, nützt ihm der Wunsch nur bedingt, wenn lokal kein entsprechender Kurs stattfindet, eine Anreise zu der Veranstaltung zuviel Zeit und Geld beansprucht oder seine Arbeit – zum Beispiel auf dem Feld – eine zeitliche Einplanung des Lehrgangs generell verhindert.

Probleme bei der Forschung

Kontextualisierung ist eine weitere Hürde, mit der Wissenschaftler ringen, wenn sie der Frage nachgehen, ob der Knopf am Fernseher der Einschaltknopf für sozialen Wandel ist. Zwei andere Knacknüsse sind der zeitliche Rahmen ihrer Erhebungen sowie die Rekrutierung von Interviewpartnern: Wie lange dauert es, bis Forscher den Wandel sozialer Vorstellungen nicht nur vage vermuten sondern eindeutig feststellen können? Wie lange müssen ihm entsprechende Taten folgen, um das Verhalten als etabliert und Veränderungen als vollzogen betrachten zu dürfen? Und wie repräsentativ sind die Studien ohne die Befragung jener, die zwar infolge des Fernsehens neue Verhaltensweisen wagen, jedoch aufgrund zementierter sozialer Strukturen für das Aufbegehren bestraft werden? Ihre Stimmen dringen eher vereinzelt zu den Forschern vor.

Die zwei Schwierigkeiten werden bei einer Untersuchung im Senegal sichtbar. Darin zieht der französische Anthropologe Jean-François Werner seine Schlüsse nach einer sechsmonatigen Erhebung bestehend aus der beobachtenden Teilnahme sowie der Befragung von 14 Telenovela-Zuschauerinnen und sechs Zuschauern – pars pro toto scheint hier problematisch.

Ob die Flimmerkiste als Hermes sozialen Wandels gehuldigt oder ironisiert werden kann, verrät die Wissenschaft nicht. Bis sie es tut, bleibt das Fernsehen in armen Regionen eine Kraft, die laut Kritikern stets das Böse will, und laut Befürwortern stets das Gute schafft.

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